Im Durchschnitt geht jeder Franzose 3,2 Mal im Jahr ins Kino, jeder Deutsche hingegen nur 1,7 Mal. Auf den ersten Blick sind das nur Zahlen – aber beim Festival in Cannes, das in diesem Jahr sein 70. Jubiläum feierte, lässt sich die Bedeutung hinter diesen Statistiken tatsächlich erspüren. Allein die landesweite Aufregung über zwei Netflix-Produktionen im offiziellen Wettbewerb, die schließlich sogar eine Regeländerung nach sich zog – sicherlich kann man das snobistisch finden, aber das Festivalpolitik in Frankreich überhaupt das Zeug zum Politikum hat, finde ich einfach großartig.
Man stelle sich nur mal eine öffentliche Debatte über die Einladung oder Nicht-Einladung eines Films in den Berlinale-Wettbewerb vor – eine wahrhaft absurde Idee.
In Cannes werden neben den Schuhabsätzen der Stars eben auch Filme mit einer Ernsthaftigkeit und Leidenschaft diskutiert, wie man es bei kaum einem anderen Festival der Welt erlebt. Am Ende ist man völlig ausgepowert – und trotzdem hat man zwei Wochen Kinoliebe getankt, die einem über das ständige Auf und Ab des restlichen Filmjahres hinweghilft.
Nun können wir ja (leider) nicht alle nach Cannes fahren (im Gegensatz zu Berlin kann man sich dort auch nicht ohne Akkreditierung einfach so Tickets kaufen). Aber vielleicht können wir trotzdem etwas von Cannes mit nach Deutschland nehmen – leidenschaftliche Diskussionen und spannende (gerne auch verschiedene) Meinungen statt Rotten-Tomatoes-Herdentrieb, eine Konzentration nicht nur auf den Mainstream, sondern ein ständiger Blick nach links und rechts, eine Lust an Entdeckungen.
Ein Wunschtraum? Vielleicht.
Der Wettbewerb
Der offizielle Wettbewerb, das Herzstück des Festivals, wird dieses Mal sicher nicht als einer der stärksten in die Kinogeschichtsbücher eingehen – und das liegt neben der Abwesenheit eines herausragenden Meisterwerks wie „Toni Erdmann“ vor allem daran, dass viele große Regie-Namen 2017 nicht unbedingt ihre besten Filme abgeliefert haben:
Ruben Östlunds spektakelhafte Kunst-Satire „The Square“ kam (trotz Goldenen Palme, hier könnt ihr alle Gewinner nachlesen) nicht so gut an wie sein Vorgänger „Höhere Gewalt“. Michael Hanekes „Happy End“ hat zwar bei uns 4,5 Sterne bekommen, wird aber allgemein deutlich schwächer eingeschätzt als „Das weiße Band“ und „Liebe“ (die ja beide die Goldene Palme gewonnen haben, während „Happy End“ nun völlig leer ausging). Auch Kornél Mundruczós Fantasy-Flüchtlingsfilm „Jupiter’s Moon“ wurde eher verrissen, während der vorherige Film des Regisseurs „Underdog“ vor drei Jahren noch die Sektion Un Certain Regard für sich entscheiden konnte.
Trotzdem gab es auch wieder viel Aufregendes zu entdecken – und das überraschenderweise vor allem in Form von Genrefilmen, für die das Festival bisher nun wirklich nicht gerade berühmt war. Von Lynne Ramsays „You Were Never Really Here“, in dem Joaquin Phoenix als Ex-Soldat Kinderschändern mit dem Hammer die Schädel einschlägt, über den vibrierenden Safdie-Brüder-Thriller „Good Time“, in dem plötzlich selbst „Twilight“-Glitzervampir Robert Pattinson restlos begeistert, bis hin zu Fatih Akins „Aus dem Nichts“, der zwar mit betont naturalistischen Gerichtsszenen zu betonen versucht, wie nah dran er am wirklichen Leben ist, aber in Wirklichkeit eben doch vornehmlich Genre-Dynamiken bedient (und das verdammt effektiv).
Und so gab es trotz aller Kritik am Ende nur einen Film unter den 19 Beiträgen, bei dem sich wirklich alle einig waren, dass er im Wettbewerb nichts verloren hat – Jacques Doillons spießige Künstler-Biografie „Auguste Rodin“. So schlecht ist die Quote also eigentlich doch gar nicht.
Hat die Jury wieder Mist gebaut?
Nein, einen Fauxpas wie im vergangenen Jahr, als der Top-Favorit „Toni Erdmann“ am Ende völlig leer ausgegangen ist, hat sich die Jury um ihren Präsidenten Pedro Almodóvar und Superstar Will Smith nicht erlaubt. Allerdings wäre das auch gar nicht so einfach gewesen, denn einen klaren Favoriten, den man hätte übergehen können, gab es in diesem Jahr gar nicht. Da hätten die Jurymitglieder schon einen der Filme, die in der Breite so gar nicht angekommen sind, etwa das spröde Künstler-Biopic „Auguste Rodin“ oder den halbgaren Flüchtlingskrise-Engelfilm „Jupiter’s Moon“ mit der Goldene Palme auszeichnen müssen, um einen ähnlichen Aufruhr wie 2016 anzuzetteln.
Stattdessen sind alle Juryentscheidungen absolut nachvollziehbar – selbst wenn mein persönlicher Wettbewerbs-Liebling „The Meyerowitz Stories“ leider völlig leer ausgegangen ist (persönlich hätte ich den Darstellerpreis eher an Adam Sandler als an Joaquin Phonix vergeben). Aber überraschend war es nun wirklich nicht, dass der New-York-Film von Noah Baumbach nichts abbekommen hat, immerhin handelt es sich dabei nicht nur um eine Komödie, die in Cannes traditionell einen schweren Stand haben, sondern stammt zudem auch noch von Netflix, also jenem Streaming-Anbieter, um dessen Release-Politik (nicht erst ins Kino, sondern direkt als Stream) sich in diesem Jahr an der Côte d’Azur gefühlt jede zweite Diskussion drehte (weshalb ich dazu jetzt nicht auch noch meinen Senf dazugeben werde).
Entdeckungen über dem Tellerrand
Mit dem Regiepreis für Sofia Coppola hat die Jury ein wichtiges Zeichen gesetzt – aber der Film, der die Bedeutung einer weiblichen Perspektive auf das Kino am eindrucksvollsten unterstreicht, ist trotzdem nicht Coppolas „Die Verführten“, sondern Chloé Zhaos „The Rider“, der dann auch verdientermaßen mit dem Hauptpreis der Reihe La Quinzaine des Réalisateurs ausgezeichnet wurde. In ihrem Neo-Western seziert die gebürtige Chinesin Zhao auf ebenso einfühlsame wie präzise Weise die typischen Männlichkeitsideale des Genres. Im Zentrum steht dabei ein junger vielversprechender Rodeo-Reiter (großartig: Brady Jandreau), der nach einem Tritt gegen den Kopf nicht mehr aufs Pferd steigen darf und so für sich selbst herausfinden muss, wie er sich in einer solch machohaften Umgebung, in der ein echter Cowboy eigentlich keinerlei Schwächen zeigen darf, trotzdem noch als Mann behaupten kann.
Bei keinem anderen Film hat man so oft und so laut die Forderung gehört, dass er eigentlich in den offiziellen Wettbewerb gehört hätte, wie bei Sean Bakers „The Florida Project“. Nachdem er mit seinem vorherigen Projekt „Tangerin L.A.“ auch deshalb so viel Aufsehen erregt hat, weil er den Film komplett auf einem iPhone gedreht hat, ist „The Florida Project“ nun ganz klassisch auf 35-Millimeter gedreht – und trotzdem strahlt der Film erneut eine unglaublich-vitale Energie aus, mehr mitgerissen hat uns in diesem Jahr sonst jedenfallsnichts: Ohne einen klassischen Plot beschreibt Baker das Leben der sechsjährigen Moonee (eine dauerfluchende Naturgewalt: Brooklynn Prince) und ihrer nicht nur finanziell überforderten Mutter Halley (Bria Vinaite) in einem Motel in Florida, in dem viele der Zimmer von Dauergästen nah am Bankrott bewohnt werden. Trotzdem ist „The Florida Project“ das genaue Gegenteil von einem Armuts-Porno: ein ungemein lebendiger, total aufregender, zutiefst menschlicher Film, der fast ein wenig an das sommerlich-abenteuerliche Gefühl solcher Filme wie „Die Goonies“ oder „Stand By Me“ erinnert. In der anstehenden Oscarsaison wird man von „The Florida Project“ bestimmt noch viel hören (auch in Bezug auf Willem Dafoe, der hier seine beste Leistung seit vielen Jahren abliefert und sich so schon jetzt reelle Hoffnungen auf den Oscar als Bester Nebendarsteller machen darf):
Cannes diesjährige Begeisterung für Genrekino setzte sich übrigens auch abseits des Wettbewerbs fort – gerade in den Mitternachtsvorstellungen: So beginnt der koreanische Action-Reißer „The Villainess“ direkt mit einer etwa zehnminütigen Sequenz, bei der wir aus der Ego-Perspektive quasi aus den Augen der titelgebenden Killerin miterleben, wie sie sich durch mehrere Stockwerke und locker über 100 schwerbewaffnete Widersacher schnetzelt. Das ist wie „Hardcore“ auf Crack. Anschließend ist die eigentliche Handlung zwar ein bisschen zu verschachtelt für meinen Geschmack, trotzdem hat der Film bis zum Ende unglaublich viel Laune gemacht - und ich persönlich hätte vielleicht auch noch einen halben Stern mehr gegeben, als der Actionspaß von Jeong Byeong-gil am Ende bei uns bekommen hat.
Und die Deutschen so?
Fatih Akins Terror-Drama „Aus dem Nichts“ erntete bei seiner Pressevorführung den längsten Applaus des Wettbewerbs – bei anschließenden Gesprächen mit den Kollegen stellte sich dann aber heraus, dass der Film die Kritikergemeinde doch ziemlich gespalten hat. Manche sahen in dem Rachefilm eine mittelprächtige „Tatort“-Episode, andere waren ganz begeistert von der bitteren Konsequenz und der intensiven Spannung. Selbst innerhalb der FILMSTARTS-Redaktion gibt es zu „Aus dem Nichts“ komplett unterschiedliche Ansichten – nur in einer Sache sind sich dann doch fast alle einig: Die Auszeichnung von Diane Kruger als beste Schauspielerin geht absolut in Ordnung.
In der Reihe Un Certain Regard feierte unterdessen „Western“ von Valeska Grisebach seine Premiere – übrigens vor unverdient wenigen Zuschauen, denn für mich zählt das mit Laien besetzte Drama über Berliner Bauarbeiter in der bulgarischen Provinz neben Hong Sang-soos „Claire‘s Camera“ zu den herausragenden Filmen dieses Festival-Jahrgangs. Zumindest aus dem Wettbewerb hat mich kein Film dermaßen begeistert (meine ausführliche Kritik zu „Western“ könnt ihr hier nachlesen).
Und zuletzt lief in der von Kritikern kuratierten Nebenreihe Semaine de la Critique auch noch das Animations-Drama „Teheran Tabu“. In seinem Langfilmdebüt legt der im Iran geborene, aber inzwischen in Deutschland lebende und arbeitende Ali Soozandeh schonungslos die Bigotterie der patriarchalischen iranischen Gesellschaft offen. Nach außen pochen alle auf die staatlichen und religiösen Moralvorschriften, aber im Privaten sieht die Sache dann doch ganz anders aus – so lässt sich gleich in der ersten Szene ein Mann in seinem Auto von einer Sexarbeiterin einen blasen, aber als er auf dem Gehsteig seine unverheiratete Tochter erspäht, die lediglich mit einem anderen Mann Händchen hält, rastet er völlig aus. Zu Beginn wirkt „Teheran Tabu“ noch etwas didaktisch, weil die einzelnen Kritikpunkte zu sauber nacheinander abgearbeitet werden, aber sobald die drei zentralen Frauenfiguren vollends ausgeformt sind, hat der Film zum Glück gar nichts mehr Belehrendes an sich, sondern ist überraschend, berührend, oft herzzerreißend und manchmal auch sehr komisch
Kino in Zeiten des Terrors
In den vergangenen zwölf Tagen war ich 47 Mal im Kino – und damit habe ich auch 47 Mal eine Sicherheitskontrolle wie am Flughafen mitgemacht. Eigentlich war es sogar noch viel häufiger, denn auch an den Zugängen zum Pressebüro oder zum Festivalpalais musste man erst einmal an den Metalldetektoren und Taschenkontrolleuren vorbei.
Ich werde gerade in Anbetracht der schrecklichen Ereignisse von Manchester einen Teufel tun und mich hier wie einige Kollegen über die leicht erhöhten Wartezeiten oder einkassierte Kaugummis beschweren. Aber das Gefühl ist trotzdem ein ganz anderes. Wo man früher voller Vorfreude auf den Film die legendären 24 Stufen des Roten Teppichs zum Grand Théâtre Lumière mit seinen 2.300 Sitzplätzen emporgestiegen ist, hat man nun statt des Films erst noch die nächste Kontrolle im Hinterkopf.
Zumal neben der omnipräsenten Polizei zusätzlich auch noch jeden Tag ganze Lastwagenladungen von Soldaten angekarrt wurden, um schwer bewaffnet an der Promenade auf Patrouille zu gehen. Der Ausblick beim Frühstückskaffee: ein strahlend blaues Meer und jede Menge Maschinengewehre.
Die Hoffnung darauf, dass die immensen Sicherheitsvorkehrungen in den kommenden Jahren wieder zurückgefahren werden, wäre sicherlich arg optimistisch. Viel eher können wir uns vorstellen, dass solche Taschenkontrollen in Zukunft auch in regulären Kinos an der Tagesordnung sein könnten. Dabei ist das gerade das eine Element des Kinoparadieses Cannes, das wir euch nicht mit zurück nach Deutschland bringen wollen.
Wenn man schon zwei Wochen lang kaum mal mehr als fünf Stunden pro Nacht schläft, dann sollte dabei natürlich auch was Zählbares rumkommen – hier also eine Übersicht all unserer bisher veröffentlichten FILMSTARTS-Kritiken aus Cannes (in den kommenden Tagen werden sicher noch ein paar Nachzügler dazukommen):
Kritiken zu den Wettbewerbs-Filmen:
- „You Were Never Really Here“ von Lynne Ramsay
- „Aus dem Nichts“ von Fatih Akin
- „Auguste Rodin“ von Jacques Doillon
- „L’Amant Double“ von François Ozon
- „120 Beats Per Minute“ von Robin Campillo
- „Good Time“ von Ben Safdie und Joshua Safdie
- „Die Sanfte“ von Sergei Loznitsa
- „Die Verführten“ von Sofia Coppola
- „The Killing Of A Sacred Dear” von Yórgos Lánthimos
- „Happy End“ von Michael Haneke
- „Redoutable“ von Michel Hazanavicius
- „The Meyerowitz Stories“ von Noah Baumbach
- „The Square“ von Ruben Östlund
- „Loveless“ von Andrey Zvyagintsev
- „Jupiter’s Moon“ von Kornél Mundruczó
- „Wonderstruck“ von Todd Haynes
Kritiken zu Filmen aus den anderen Reihen:
- „Ismael’s Ghosts“ von Arnaud Desplechin
- „Barbara“ von Mathieu Amalric
- „Western“ von Valeska Grisebach
- „Bushwick“ von Cary Murnion und Jonathan Milott
- „The Merciless“ von Sung-hyun Byun
- „Nach einer wahren Geschichte“ von Roman Polanski
- „Brigsby Bear“ von Dave McCary
- „Carne Y Arena“ von Alejandro González Iñárritu
- „Zombillenium“ von Arthur de Pins und Alexis Ducord
- „The Villainess“ von Byeong-gil Jeong
- „The Florida Project“ von Sean Baker
- „A Prayer Before Dawn“ von Jean-Stéphane Sauvaire
- „Teheran Tabu“ von Ali Soozandeh
- „Wind River“ von Taylor Sheridan
- „Blade Of The Immortal“ von Takashi Miike
- „Immer noch eine unbequeme Wahrheit – Unsere Zeit läuft“ von Bonni Cohen und Jon Shenk