Pedro Almodóvar, der Jurypräsident des Festival-Jahrgangs 2017 in Cannes, hielt eine flammende Rede darüber, wie sehr ihn Robin Campillos AIDS-Drama „120 Beats Per Minute“ berührt habe und ließ nach der Preisverleihung offen durchblicken („wir hatten eine sehr demokratische Jury“), dass der spanische Arthouse-Meister seinem französischen Kollegen die Goldene Palme verliehen hätte, wenn er das alleinige Sagen gehabt hätte. So gewann Campillo mit seinem bewegenden Melodram „nur“ den Großen Preis der Jury, die zweithöchste Auszeichnung an der Croisette, weil eine Mehrheit der Jury Ruben Östlunds clever-spektakuläre Gesellschaftssatire „The Square“ bevorzugte. Macht aber nichts: Campillo, der sich selbst schon seit Jahrzehnten für die Rechte der Mitglieder der LGBTQ-Community einsetzt, schildert in einem emotional enorm aufwühlenden Film von den Ungerechtigkeiten zu den Hochzeiten der AIDS-Epidemie Anfang der 90er Jahre. Er nimmt dabei die Perspektive der Aktivisten der Widerstandsgruppe ACT UP ein, die bei ihrem weltweiten Kreuzzug für die Rechte und Interessen von AIDS-Kranken auch vor radikalen Methoden nicht zurückschreckten.
Die in den 80ern ausgebrochene AIDS-Seuche erschüttert zu Beginn des folgenden Jahrzehnts mehr denn je die Schwulen- und Lesben-Community von Paris. In der Aktivistengruppe ACT UP haben sich Betroffene und Sympathisanten zusammengefunden, um aktiv Widerstand zu leisten: gegen skrupellose Pharmakonzerne, die im Verdacht stehen, wirksamere Mittel zur Verlangsamung der Erkrankung zurückzuhalten; gegen die ihre Probleme ignorierende französische Regierung um Präsident François Mitterrand und schließlich gegen die öffentliche Ausgrenzung der HIV-Infizierten, die nicht selten von der Gesellschaft wie Aussätzige behandelt werden. Der smarte Leader der bunten Truppe ist Thibault (Antoine Reinartz), aber auch die resolute Sophie (Adèle Haenel, „Das unbekannte Mädchen“) steht immer in der ersten Reihe, wenn ACT UP spektakuläre, öffentlichkeitswirksame Guerilla-Aktionen durchzieht. Unterdessen verliebt sich der junge, großmäulig-sensible ACT-UP-Kämpfer Sean (Nahuel Pérez Biscayart) in den hübschen Neuling Nathan (Arnaud Valois), der als eines der wenigen Mitglieder der Gruppe nicht HIV-positiv ist. Während die Liebe gedeiht, verschlechtert sich Seans Gesundheitszustand zunehmend.
Der 1962 in Marokko geborene Robin Campillo („Eastern Boys“), der das Drehbuch zum 2008er Cannes-Sieger „Die Klasse“ (mit)schrieb, ist selbst schwul und engagierte sich einst auch bei ACT UP. Diese Erfahrung aus erster Hand brachte der Franzose in sein Skript zu „120 Beats Per Minute“ ein, ohne daraus einen „Schlüsselfilm“ mit offen autobiografischen Zügen zu machen. Die ganz persönliche Betroffenheit ist in Campillos dritten Spielfilm unter eigener Regie aber jederzeit zu spüren. Er (re)kreiert das explosive Klima einer dramatischen Zeit, als die AIDS-Seuche wie entfesselt um sich griff und die todgeweihten Opfer gleichzeitig noch von weiten Teilen der Gesellschaft stigmatisiert wurden. Und er lässt uns an den aufbrausenden Gefühlen von Verzweiflung und Wut bei den Betroffenen und ihren Mitstreitern teilhaben: „120 Beats Per Minute“ gleicht in der von wüst-kompromisslosen Aktionen geprägten Anfangsphase einem politischen Kriegsfilm: Wir gegen die!
In den harmloseren Momenten kapern die ACT-UP-Aktivisten Schulstunden, verteilen in der Klasse Kondome und klären die Schüler radikal auf (da werden auch schon mal Bilder von Analverkehr herumgereicht). Am anderen Ende der Aggressionsskala steht die Besetzung der Zentrale des Großkonzerns Melton Pharma, bei der die Büros mit Kunstblut verwüstet und Mitarbeiter verängstigt werden. Immer geht es aber vor allem darum, Aufmerksamkeit zu erregen und die Öffentlichkeit aufzurütteln. Am klarsten zeigt sich diese Mischung aus gezielter Provokation und kaum im Zaum gehaltener Gewaltbereitschaft, als ACT UP nach Art eines Überfallkommandos eine Podiumsdiskussion sprengt und dabei Pharmabosse demütigt. Bei all dem sind Campillos Sympathien klar verteilt, aber er lässt auch ein wenig Platz für Grautöne. Weder idealisiert er die Aktivisten noch verteufelt er pauschal die Pharma-Lobbyisten. Deren Zeichnung wirkt einfach nur realistisch und ziemlich repräsentativ für den damaligen gesellschaftlichen Umgang mit AIDS: Sie halten auffälligen Abstand zu den Betroffenen, brechen den Dialog aber nie ab. Die Verunsicherung darüber, wie sie mit HIV-Infizierten und den zuweilen schrillen Mitgliedern der LGBTQ-Community umgehen sollen, steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
Nachdem die Gruppe sich im ersten Filmdrittel mit ihren Aktionen einen Platz im Rampenlicht erkämpft hat, kommt es innerhalb von ACT UP mehr und mehr zu Reibereien, Richtungskämpfen und persönlichen Konflikten - ganz wie in der konventionellen Politik. Diese selbstzerstörerische Dynamik bestimmt den Mittelteil des Films, bis dann im Schlussdrittel persönliche Einzelschicksale dominieren: Im Angesicht des Todes bekommt das Individuelle immer größeres Gewicht. Diese dramaturgische Dreiteilung wird durch ganz unterschiedliche inszenatorische Schwerpunkte zusätzlich akzentuiert. Während die Einleitung mit der Vorstellung der Gruppe und ihrer Aktivitäten fast schon dokumentarisch gehalten ist, verlagert Campillo den Fokus danach von den Anführern Thibault und Sophie zum Liebespaar Sean und Nathan und der Film wird dabei in jeder Beziehung sehr viel persönlicher. Die Lebenskraft des sterbenden Sean verblasst schließlich immer mehr, es ist herzzerreißend, ihm beim Vergehen zusehen zu müssen, während Lover Nathan und Teile der Gruppe sich um ihn kümmern. Nach dem Furor des Beginns erreicht der Film hier eine stille, berührende Intimität. Die Gruppe wird geschwächt, aber nicht besiegt: Selbst als die Freunde und Mitstreiter immer zahlreicher sterben, strahlt „120 Beats Per Minute“ noch die trotzige Energie aus, die auch die immer wieder leitmotivisch unwiderstehliche Gay-Hymne „Smalltown Boy“ von Bronski Beat verbreitet.
Fazit: Robin Campillos mitreißend-anarchisches Drama „120 Beats Per Minute“ ist einerseits ein dokumentarisch angehauchter Rückblick auf die schlimmste Phase der AIDS-Epidemie und gleichzeitig ein hochemotionales Plädoyer für eine offene, gleichberechtigte Gesellschaft.
Wir haben „120 Beats Per Minute“ beim 70. Filmfestival in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.