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    Okja
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Okja
    Von Christoph Petersen

    Geschichten von Kindern, die sich mit einem Bauernhoftier anfreunden und dann alles daran setzen, dass es nicht geschlachtet wird, sind eigentlich ein alter Hut. Aber wenn sich der südkoreanische Blockbuster-Regisseur Bong Joon-Ho („The Host“, „Snowpiercer“) eines solchen Stoffes annimmt, dann darf man sich zweier Dinge ganz sicher sein: Das Ergebnis wird ein paar Nummern größer ausfallen als gewöhnlich (statt um ein ganz normales Schwein geht es diesmal um ein nilpferdartiges Superschwein) und es wird auch kein weichgewaschener Familienfilm Marke Hollywood dabei herauskommen. Denn während es in diesem Genre allzu oft nur darum geht, bloß niemanden zu überfordern, wird „Okja“ nach seinem weltweiten Erscheinen auf Netflix im Juni 2017 Kinder (und ganz sicher auch etliche Erwachsene) rund um den Globus nachhaltig verstören – denn obwohl der Film als süßer Abenteuerfilm beginnt, in dem ein kleines Mädchen in das Maul ihres riesigen tierischen Freundes krabbelt, um ihm die Zähne zu putzen, lässt sich Bong Joon-Ho auch bei seinem Ausflug in familienfreundlichere Gefilde auf keinerlei faule Kompromisse ein. „Okja“ ist ein kurzweilig-actionreicher Fantasy-Blockbuster und zugleich eine extrem düstere Abrechnung mit der Fleischindustrie – selbst das Finale entpuppt sich hier als eines der ernüchterndsten Happy Ends der Filmgeschichte.

    Bei ihrer Antrittsrede als neuer CEO des internationalen Großkonzerns Mirando verkündet die zahnspangetragende Lucy Mirando (Tilda Swinton) im Jahr 2007, dass ihre Mitarbeiter auf einer chilenischen Farm ein ganz spezielles Schwein gefunden hätten, das anschließend auch schon in den USA zur Züchtung eingesetzt worden sei. Inzwischen gebe es bereits 26 Nachkommen dieses Schweins, die nun rund um den Globus an lokale Farmer verteilt werden, die die Superferkel mit ihren eigenen traditionellen Methoden aufziehen sollen – am Ende des Wettbewerbs soll unter Aufsicht des berühmten TV-Biologen Dr. Johnny Wilcox (Jake Gyllenhaal) entschieden werden, welches der dann erwachsenen 26 Exemplare in New York zum Superschwein gekürt wird. Zehn Jahre später ist die 14-jährige Mija (Seo-Hyun Ahn) allerdings gar nicht damit einverstanden, dass sie ihren tierischen besten Freund Okja nun an Mirando zurückgeben soll – und setzt alles daran, das Schwein wieder zu sich in die Abgeschiedenheit der südkoreanischen Berge zurückzuholen, kommt dabei allerdings einer freundlichen Terroristen-Truppe um den Tierliebhaber Jay (Paul Dano) in die Quere…

    Bei der Weltpremiere in Cannes wurde bei der Einblendung des Netflix-Logos im Vorspann gleichermaßen applaudiert und gebuht – schließlich verändert der Streaming-Gigant das Filmgeschäft nachhaltig und gefährdet dabei die Kinolandschaft, wie wir sie heute kennen. Aber ehrlich gesagt würde es einen Film wie „Okja“ ohne Netflix wohl gar nicht geben (schon deshalb, weil er in den US-Kinos allein wegen der häufigen Verwendung des Wortes „Fuck“ nur für Erwachsene ab 17 Jahren freigegeben werden würde - für einen Familienfilm das finanzielle Todesurteil). Stellt euch mal Folgendes vor: Der liebgewonnene Außerirdische, der doch einfach nur in Ruhe nach Hause telefonieren will, wird in der zweiten Hälfte von Steven Spielbergs „E.T.“ nicht nur gefoltert und vergewaltigt, es tauchen auch noch ganz viele weitere niedliche Außerirdische auf, die in Vernichtungsanlagen zerlegt werden, während die Alien-Eltern verzweifelt versuchen, zumindest die Babys durch die elektrischen Stacheldrahtzäune hindurch in Sicherheit zu bringen. Jetzt habt ihr eine ungefähre Vorstellung davon, was „Okja“ ist. Für genügend Gesprächsstoff nach dem nächsten Familienfilmabend ist also gesorgt - und wir meinen das keinesfalls ironisch, denn die Diskussionen (etwa über die dunkle Seite der Tierverarbeitung sowie die menschen- wie tierverachtende Idee einer über allem thronenden, nur sich selbst verantwortlichen Wirtschaft) sind zwar nicht einfach, sollten aber nichtsdestotrotz geführt werden.

    Wie schon in „Snowpiercer“ verbindet Bong Joon Ho seine dystopischen Abgründe auch diesmal wieder mit spektakulär-spaßigen Setpieces. Besonders imposant ist etwa eine wilde Verfolgungsjagd durch Seoul, bei der sich das Superschwein schließlich auch durch die engen Gänge einer U-Bahn-Station quetschen muss ¬– dabei ist nicht nur Okja selbst großartig-knuffig animiert (man will sofort auch eins), auch das Zusammenspiel mit seiner Umgebung ist extrem glaubhaft (das haben neben Steven Spielberg in „Jurassic Park“ nur sehr wenige Filmemacher so gut hinbekommen). Apropos glaubhaft: Wie absolut natürlich die erst 13-jährige Seo-Hyun Ahn („Das Hausmädchen“) mit dem computeranimierten Superschwein umgeht, trägt ebenfalls seinen Teil dazu bei, dass man Okja als Zuschauer immer beide Daumen drückt – obwohl das Konzept so eines Riesenschweins genauso gut auch ins Grotesk-lachhafte hätte kippen können. Das Mädchen Mija erweist sich auch nach der zwischenzeitlichen Trennung von Okja als patente und zielstrebige Heldin, die mitunter mehr einstecken kann als so mancher Hollywood-Actionstar (vor allem am Ende der Tunnelszene mit den Lastwagen stockte im Kino dem Publikum hörbar der Atem).

    Die Hollywoodstars Tilda Swinton (Oscar für „Michael Clayton“) und Jake Gyllenhaal („Nightcrawler“) haben ansteckend viel Spaß daran, als wandelnde Karikaturen so richtig vom Leder zu ziehen: Während Swinton in ihrer zweiten Zwillings-Doppelrolle nach „Hail, Caesar!“ wirklich alles verkörpert, was an Wirtschaftslenkern nur verachtenswert sein kann, liefert Gyllenhaal als sich würdelos an seinen früheren Ruhm klammernder Tier-TV-Moderator mit nervend-quietschiger Stimme eine regelrechte Slapstick-Performance ab – wir haben lange keinen so wunderbar-erbärmlichen Bad Guy mehr auf der Leinwand gesehen. Im Gegensatz dazu bringt Paul Dano („There Will Be Blood“) als empathischer Tierschutz-Terrorist, der alles dem 40 Jahre alten Credo der Animals Liberation Front unterordnet, keinem Tier und keinem Menschen Leid anzutun, eine geradezu sakrale Ernsthaftigkeit in den Film – wobei Bong Joon-Ho nicht einmal Jay einfach nur gut sein lässt, stattdessen rastet selbst er an einer Stelle aus und tritt einen seiner schon am Boden liegenden Mitstreiter unerwartet brutal zusammen. Haben wir schon erwähnt, dass „Okja“ den einen oder anderen (jungen) Zuschauer durchaus verstören könnte?

    Fazit: Bong Joon-Ho verliert auch im Familiengenre nicht seinen Biss – „Okja“ ist ein meisterhaft inszenierter, zu gleichen Teilen spaßiger und verstörender Fantasy-Blockbuster (wobei sich um die Kinos ja leider gar keine Schlangen bilden können, weil der Film zumindest in Deutschland wohl nur auf Netflix erscheint).

    Wir haben „Okja“ im Rahmen des 70. Filmfestivals in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb  gezeigt wird.

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