Ein absoluter Animations-Geheimtipp: Kleines Team, großes Kino!
Von Ulf LepelmeierIn einer unbestimmten Zukunft, in der nur noch Ruinen von vergangener Menschenherrschaft zeugen, begibt sich eine kleine Katze während einer Sintflut biblischen Ausmaßes auf eine Irrfahrt. Zusammen mit vier tierischen Mitstreiter*innen sucht sie in einem Boot nach dem rettenden Land in einer Welt, die völlig im Wasser zu versinken droht. Mit „Flow“ präsentiert der lettische Regisseur Gints Zilbalodis eine beeindruckend animierte Tierodyssee, die ohne Hintergrundgeschichte, gesprochene Worte oder die Vermenschlichung der Tiere auskommt.
Stattdessen erzählt er eine lyrische Überlebensfabel mit atmosphärisch-poetischen Bildern einer untergehenden, aber dennoch wunderschönen Welt. Der offizielle lettische Oscar-Kandidat, der zudem bereits mit dem Preis für den besten Animationsfilm bei den European Film Awards ausgezeichnet wurde, entwickelt sich dabei zu einem unprätentiösen und gerade deshalb gelungenen Plädoyer für die Überwindung von Unterschieden und die Kraft der Zusammenarbeit.
Eine kleine schwarze Katze streift auf der Suche nach Nahrung durch einen Wald, als sie plötzlich von einem Hunderudel gejagt wird. Noch bevor die Verfolger sie erreichen, bricht eine gewaltige Flutwelle über die herein, die alles Leben an Land auszulöschen droht. Die Katze wird von den Wassermassen mitgerissen, kann sich jedoch ans Ufer retten. Sie flüchtet in das verlassene Haus eines Bildhauers, das ihr schon länger als Unterschlupf dient. Doch das Wasser steigt weiter und begräbt bald auch das Haus.
Mit viel Glück rettet sich die Katze in ein vorbeifahrendes Segelboot, in dem sie auf ein stoisches Capybara trifft. Kurz darauf gesellen sich noch ein Golden Retriever, ein diebischer Lemur und ein großer weißer Vogel zu der ungewöhnlichen Crew. Inmitten einer untergehenden Welt müssen die Tiere, die nun buchstäblich im selben Boot sitzen, lernen, zusammenzuarbeiten, um eine Überlebenschance zu haben…
Die Kombination aus fotorealistisch anmutenden Hintergründen mit begeisternden Licht- und Wassereffekte sowie den reduzierten Cel-Shading-Animationen der Tiere mag zu Beginn noch irritieren. Schließlich ist man von Pixar und Co. doch einen besonderen Aufwand bei Fell-, Haar- oder Gefiederanimationen gewöhnt. Aber durch den Verzicht auf hochdetaillierte Figurenanimationen geht der Film bewusst der Problematik, die ansonsten bei der Mimik realistisch animierter Tiere ins Spiel kommt (wir erinnern uns an das „Der König der Löwen“-Remake“), aus dem Weg. Stattdessen setzt Gints Zilbalodis auf vereinfachte, aber ausdrucksstarke Animationen der Katze und ihrer Mitstreiter*innen, wobei der Fokus auf ihrem Mienenspiel liegt, um die Emotionen der wortlos agierenden Tiere nachvollziehbar zu machen.
Nach kurzer Zeit geht das Zusammenspiel aus Hintergründen und Figuren dann auch nahtlos auf. Zumal die sich ständig in Bewegung befindliche Kamera das Geschehen sehr dynamisch einfängt: Sie fliegt um die Tiere herum, ist im Gemenge dabei, wenn die Katze von einer aufgescheuchten Reh-Herde zertrampeln zu werden droht oder ein Vogel sie in luftige Höhen entführt. Obwohl die Odyssee oftmals rasant inszeniert daherkommt, lässt sich Regisseur Zilbalodis auch Zeit, die Bilder der faszinierenden, menschenleeren Dystopie wirken zu lassen. Trotz der zerstörerischen Überschwemmung feiern die Einstellungen die Schönheit der Natur. Die Lichtspielereien, Wasser-Reflektionen und beeindruckenden Ruinen und Skulpturen schaffen eine ehrfurchtgebietende Stimmung.
Zilbalodis setzt hier ganz auf die einnehmende Atmosphäre seiner computeranimierten, mit selbst komponierter Musik unterlegten Bilderwelt. So erschafft er immer wieder magische, fast meditative Momente, bevor es für die Katze und ihre Begleiter*innen wieder um Leben und Tod in dieser untergehenden Welt geht. Bereits Zilbalodis' Spielfilmdebüt „Away – Vom Finden des Glücks“, das er komplett in Eigenregie realisierte, offenbart ein bemerkenswertes Gespür für atmosphärische Situationen. In dem 2020 erschienenen Werk befindet sich ein schweigsamer Junge nach einem Flugzeugabsturz auf einer verlassenen Insel auf der Flucht vor einem riesigen, schwarzen Wesen. Trotz minimalistischer Animationen gelingt es diesem Film, eine Atmosphäre zu schaffen, die an die poetischen Computerspiele des japanischen Entwicklerteams ICO („Shadow of the Colossus“) erinnert und Gefühle von Ehrfurcht und Verlorenheit transportiert, die nun auch bei dem animationstechnisch weitaus elaborierteren „Flow“ in ihren Bann ziehen.
In beiden Werken entführt der Filmemacher in eigenwillige, dystopische Welten, die keine Einordnung oder Erklärung benötigen. Zilbalodis fängt wortlose Odysseen ein, die keiner stringenten Narration folgen, sondern durch ihre Rätselhaftigkeit bestechen. Die Charakterisierung der Figuren erfolgt weniger direkt, sondern wird vielmehr über die stimmungsvolle Atmosphäre, die Musik und insbesondere die Laute sowie Bewegungen der Tiere vermittelt. Mit diesem besonderen Ansatz entsprechen Zilbalodis’ Werke eher filmisch umgesetzten Videospielen als traditionellen Kinoerlebnissen.
Zilbalodis` Kurzfilm „Aqua“ aus dem Jahr 2012 kann schon fast als ein Storyboard für einzelne Sequenzen aus „Flow“ angesehen werden und verdeutlicht eindrücklich, wie lange sich der Regisseur bereits mit der Grundidee – einer Katze in einer plötzlich von Wassermassen bedrohten Welt – beschäftigt. Dabei ist „Flow“ die erste Produktion, die der lettische Filmemacher nicht als Ein-Mann-Team komplett selbstständig verwirklicht hat. Er versteht seine neue Erfahrung der Teamarbeit bei der Filmentstehung als eine direkte Entsprechung zu den Erlebnissen seines tierischen Protagonisten. Denn das schwarze Kätzchen, ein zutiefst autarkes Wesen, muss erst lernen, sich in eine Gemeinschaft zu integrieren und ihre Ängste vor Wasser und Interaktionen mit anderen Tieren zu überwinden, um zu überleben.
Ohne die Tiere zu vermenschlichen, zeichnet sich die Bootscrew durch ihre jeweiligen tierischen Eigenarten aus, die sich in unterschiedlichen Charakterzügen manifestieren. So ist der unbekümmerte Hund von Naivität und starker Gruppenorientierung geprägt, der Lemur zeigt sich hyperaktiv und besitzergreifend, während das in Capybara als Ruhepol über den unvermeidlichen Verständigungsproblemen und Ungereimtheiten an Bord steht. Durch die fließenden Bewegungen, Gesichtsausdrücke und Tierlaute lässt sich stets erahnen, was die einzelnen Mitglieder bewegt. Trotz ihrer Unterschiede müssen sie alle an einem Strang ziehen, um den Herausforderungen dieser untergehenden Welt zu begegnen.
Fazit: Bildstark, rasant und zugleich nachdenklich stimmend – „Flow“ ist ein Animationsfilmerlebnis, das mit wunderbar stimmungsvollen Bildern die Schönheit und zugleich unbändige Kraft der Natur sowie den Überlebenswillen und Teamgeist einer einfallsreichen Tiergemeinschaft wider Willen zelebriert.
Wir haben „Flow“ beim 21. Festival de Sevilla gesehen.