Das Kino steckt in der Krise heißt es in der Branche immer wieder, immer weniger Menschen kaufen Kinokarten, immer mehr Möglichkeiten der Zerstreuung kämpfen um die beschränkte Aufmerksamkeit der potentiellen Kunden. So wird seit langem und immer wieder aufs Neue nach Möglichkeiten gesucht, dem Schwund etwas entgegenzusetzen. Das aktuelle Zauberwort, von dem nicht nur Hollywood hofft, dass es das nächste heiße Ding wird, heißt VR - Virtual Reality. Auf immer mehr Festivals werden Beispiele der noch in den Kinderschuhen steckenden immersiven Technologie präsentiert, meist noch versteckt auf den Filmmärkten, also jenen Industrieinsider-Nischen abseits des „normalen“ Publikums. In Cannes wurde nun mit Alejandro G. Iñárritus „Carne Y Arena“ erstmals ein VR-Kurzfilm ins offizielle Programm des Festivals eingeladen - und hinterlässt zwiespältige Gefühle.
Iñárritu, vierfacher Oscar-Preisträger für seine beiden vorangegangenen Spielfilme „Birdman“ und „The Revenant“, ist bislang der namhafteste Regisseur, der sich an die neue Technik wagt. Was nicht überrascht, schließlich ist der Mexikaner ein visuell ambitionierter, innovativer Regisseur, der immer wieder versucht, die Bildsprache des Kinos zu erneuern. Sein Stammkameramann und unverzichtbarer Mitstreiter ist dabei Emmanuel Lubezki („Gravity“, „The Tree Of Life“), der nun auch für den Look von „Carne Y Arena“ verantwortlich war und die Hintergrundbilder gefilmt hat.
Die erste kleine Überraschung des sechseinhalb Minuten kurzen Films ist, dass sehr deutlich als animiert erkennbare Personen zu sehen sind. Obwohl den Bildern Aufnahmen mit realen Schauspielern zugrunde liegen, ist die Illusion bei weitem nicht so perfekt wie bei den besten Motion-Capture-Figuren. Man befindet sich im Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA in der kargen Landschaft der kalifornischen Sonora-Wüste. Am Horizont geht die Sonne auf, langsam kristallisieren sich in der Ferne schemenhafte Figuren heraus. Der Besucher/Zuschauer kann sich ihnen nähern, er kann sich in dem etwa 15 mal 15 Meter großen Raum in einem Flugzeug-Hangar in einem Vorort von Cannes, der als Aufführungsort für „Carne Y Arena“ dient, frei bewegen. Vor dem Betreten der Spielfläche zieht man in einer Art Schleuse Schuhe und Strümpfe aus, um den rohen Wüstensand unter den Füßen zu spüren, mit dem die Halle ausgelegt ist.
Man bewegt sich also im Raum, die erwähnten Menschen, die unübersehbar Fluchtlinge sind, kommen auf einen zu, man kann um sie herum gehen und sogar gleichsam in sie hinein: Steckt man den Kopf in die Körper, sieht man pulsierende Herzen, die bald schneller schlagen, als die Grenzpolizei auftaucht. Hubschrauber schwirren am Himmel, Suchscheinwerfer blenden. Wenn dann ein Polizist einen Flüchtling erschießt, entsteht ein typischer Iñárritu-Moment: Eine Seele schwebt auf und plötzlich sieht man einen Tisch, auf dem ein junges Mädchen ein Boot erblickt, das vor einer Küste kentert. Höchst didaktisch ist das und einigermaßen kitschig, durch die groben Animationsbilder wirkt es vor allem auch extrem künstlich.
Im Vergleich zu manch anderen VR-Installationen, die in Cannes auf dem Markt oder in Präsentationen abseits des Hauptfestivalgeschehens zu sehen waren, nutzt Iñárritu die Möglichkeiten der Technik nur in Ansätzen. Auf die Überwältigungsästhetik der typischen VR-Momente, in denen es dem Betrachter schwindlig werden zu droht, verzichtet er bewusst. Ein wenig mutet diese Zurückhaltung wie die Crux mit dem 3D-Kino an: Fliegen da Gegenstände in die Kamera, dann wirkt es oft wie ein plumper Jahrmarktseffekt, verzichtet man auf solch extreme Momente, stellt sich dagegen bald die Frage nach dem Sinn der Nutzung dieser Technik.
Mit „Carne Y Arena“ lässt uns Iñárritu als Beobachter in eine Situation eintauchen, wie sie sich wohl täglich an diversen Grenzen ereignet, will uns die oft abstrakt hinter Zahlen und Nachrichtenfloskeln verschwindende Flüchtlingserfahrung sinnlich und emotional nahebringen. Das kann allerdings auch ein konventioneller (Kurz-)Film erreichen. Das enorme Potential, das in der VR-Technik steckt, hat Iñárritu letztlich nur angekratzt und eine der grundlegenden Fragen stellt sich auch bei ihm: die der Verfügbarkeit. Kaum 50 Personen konnten pro Tag „Carne Y Arena“ sehen, natürlich viel zu wenige, um solch ein Unternehmen kommerziell vertretbar zu machen. Bleibt die Technik allerdings auf den Museumskontext beschränkt wie in diesem Fall (in den nächsten Monaten wird „Carne y Arena“ in Museen in Mailand und Los Angeles zu sehen sein), dann wird diese so spannende Technik wohl kaum so weitreichende Kreise ziehen, wie Hollywood sich das erhofft.
Fazit: Alejandro G. Iñárritus „Carne y Arena“, der erste Virtual-Reality-Film im Programm des Festivals von Cannes, ist eine durchaus faszinierende Erfahrung, aber die Möglichkeiten der sich hier noch sehr deutlich vor das erzählerische und emotionale Element der Installation schiebenden Technik sind noch lange nicht erschöpft.
Wir haben „Carne Y Arena“ bei den 70. Filmfestspielen in Cannes 2017 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Programms gezeigt wird.