So realistisch war ein Knast-Drama selten
Von Oliver KubeRegisseur Greg Kwedar („Transpecos“) nimmt in seinem Drama „Sing Sing“ das Publikum mit hinter die schwer gesicherten Tore des gleichnamigen, etwa 50 Kilometer außerhalb von New York City gelegenen und real existierenden Gefängnisses. Dort zeigt sich allerdings eine andere Welt als jene, die wir als Filmfans aus unzähligen Thriller-Reißern kennen. Schließlich ist der Knast auch so legendär, weil er bereits seit Beginn der Filmgeschichte ein beliebter Schauplatz war. Schon für den frühen Gangsterfilm „Alias Jimmy Valentine“ von 1915 wurden hier Szenen gedreht, weitere legendäre Titel – von „Chicago - Engel mit schmutzigen Gesichtern“ (1938) bis „Kiss Of Death“ (1995) – nutzten das Gefängnis. Doch Kwedars Inszenierung bricht gezielt mit den gewohnten Bildern, die uns aus der Popkultur vertraut sind.
Nicht ein einziges Mal sieht man hier etwa die für dieses Sujet längst schon obligatorisch erscheinenden Gewichte stemmenden, komplett tätowierten Brutalos auf dem Hof der Haftanstalt. Nie hat man den Eindruck, dass nur ein „falscher“ Blick oder der Streit um eine Schachtel Kippen reichen könnte, um jemanden mit einer angespitzten Zahnbürste abzustechen. Natürlich gibt es auch in „Sing Sing“ reichlich Verbrecher und zwielichtige Typen. Als wir sie treffen, scheinen sie jedoch längst gebrochen von ihrer Existenz hinter Gittern und dem Wissen, dass das Leben draußen weitergeht – ohne sie. Doch „Sing Sing“ zeigt auch Hoffnung auf eine Rückkehr in die „normale“ Welt, die durch Rehabilitation möglich wird.
Denn der Film erzählt eine berührende, weil jederzeit authentisch und erfrischend klischeearm präsentierte Story, die auf dem realen RTA-Programm (Rehabilitation Through The Arts) der Haftanstalt basiert. Dieses bietet Häftlingen die Chance, unter anderem durch die Kreation und Aufführung von Theaterstücken neue Seiten und Talente an sich selbst zu entdecken beziehungsweise zu entwickeln. Mit Ausnahme von Colman Domingo („Rustin“) und Paul Raci („Sound Of Metal“) sowie des viel zu selten in Filmen zu sehenden Theatermimen Sean San Jose („Cafe Blue Eyes“) besteht der Hauptcast fast ausschließlich aus ehemaligen Insassen Sing Sings, die am RTA-Programm teilgenommen haben und heute frei sind.
In der Justizvollzugsanstalt Sing Sing ist John (Colman Domingo) der Star des Theaterprogramms für Häftlinge. Er nutzt seine im Jugendalter angeeignete Bühnenerfahrung, um die kleine Gruppe von Insassen anzuführen, die für die anderen Gefangenen sowie das Wachpersonal Shows auf eine improvisierte Bühne im Speisesaal bringen. John, der wegen eines Mordes verurteilt wurde, den er nicht begangen hat, sitzt schon seit vielen Jahren ein. Allein seine Arbeit als Schauspieler gibt ihm die Kraft, weiterhin zu versuchen, seine Unschuld zu beweisen, und für eine Rehabilitierung zu kämpfen.
Neu in der Truppe ist Divine Eye (Clarence Maclin), ein abgebrühter Gangster, der anstelle der üblichen Shakespeare-Stücke ein neues Projekt vorschlägt: eine wilde Zeitreise-Komödie, in der Figuren wie Hamlet, Freddy Krueger, alte Ägypter, Piraten und römische Gladiatoren aufeinandertreffen. John, der es nicht gewohnt ist, dass seine Führungsrolle herausgefordert wird, tut sich schwer damit, die neue Situation zu akzeptieren – insbesondere nachdem sein bester Freund und Zellennachbar (Sean San Jose) plötzlich verstirbt und sein sorgfältig vorbereiteter Antrag auf Freilassung einmal mehr abgeschmettert wird...
Wer den erst 2022 in die deutschen Kinos gekommenen „Ein Triumph“ gesehen hat, wird bei „Sing Sing“ sicher gleich an den ebenfalls von einer Theatertruppe hinter Gefängnismauern handelnden französischen Titel denken müssen. Auch der Film von Emmanuel Courcol basierte auf realen Begebenheiten. Trotz ähnlich deprimierender Kulisse und trauriger Lebensläufe arbeitete er jedoch überwiegend mit komödiantischen Elementen. Dementsprechend deutlich leichter und gefälliger präsentierte sich das Ergebnis. Dennoch – oder gerade deshalb – würden beide Filme zusammen bestimmt ein interessantes Double-Feature ergeben.
Greg Kwedar filmte sein Werk innerhalb von nur 18 Tagen. Gedreht wurde nicht im realen Sing Sing, sondern in anderen verlassenen Haftanstalten des Bundesstaates New York und einer Highschool-Aula. Sein Chef-Kameramann Pat Scola („A Quiet Place: Tag Eins“) drehte auf 16-Millimeter-Film, größtenteils mit handgehaltener Kamera und nahezu ausschließlich natürlichem Licht. Dabei arbeitete er viel mit Großaufnahmen der Gesichter und benutzte für einige Szenen GoPros, deren Aufnahmen an Überwachungskamerabilder erinnern. All dies gibt dem Ganzen einen fast schon dokumentarischen Anstrich, der viel zum Gefühl der Authentizität und einer bedrückenden Atmosphäre beiträgt.
Mittels einer sehr emotionalen Szene werden uns recht früh die Figuren auf elegante Weise nähergebracht: Bei einer Schauspielübung lässt der von Paul Raci großartig verkörperte zivile Leiter und Regisseur der Gruppe die Teilnehmer im Kreis sitzen und die Augen schließen. Er fordert sie auf, sich an den ihres Empfindens nach perfekten Ort und Zeitpunkt in ihrem Leben zu erinnern. Dann bittet er sie, reihum zu erzählen, wo sie sich in Gedanken gerade befunden haben. Die kleinen Geschichten, die die Männer mit einfachen Worten schildern, sind so bewegend, so real, dass wir als Publikum die Emotionen fast in ihren Augen widergespiegelt sehen.
Wenig später im Film kommt es zu einer verbalen Konfrontation zwischen einem der anderen Schauspieler und Divine Eye, der weder willens noch in der Lage erscheint, seine Straßengangstermentalität abzulegen. Da fleht ihn ein dritter Kollege an: „Wir haben uns hier zusammengefunden, um wieder menschlich zu werden, uns bunte Kleider anzuziehen, zu tanzen und Dinge zu genießen, die in unserer Realität sonst nicht existieren.“ Er beruhigt Divine Eye und bringt ihm den Zweck der Theatergruppe näher, zumindest vorübergehend. Wie sehr das Leben hinter Gittern den Menschen grundsätzlich verändern kann – nicht nur im Umgang mit anderen, sondern auch und vor allem mit sich selbst – wird hier recht subtil, aber doch mit Nachdruck deutlich.
Der 2024 für „Rustin“ oscarnominierte und gewohnt exzellente Colman Domingo dürfte auch dieses Mal wieder für den einen oder anderen Preis infrage kommen. Der Star des Netflix-Hits „The Madness“ versteht es, mit wenigen Blicken, seiner Mimik und kleinen Manierismen wie dem Streicheln seines Kinns oder dem Spielen mit der Brille im Drahtgestell zu fesseln. Vor allem sorgt aber seine ausdrucksstarke Stimme in der englischen Originalfassung dafür, dass das Interesse des Publikums jedes Mal voll bei ihm ist, wenn er vor der Kamera zu sehen ist.
Eine echte Entdeckung ist jedoch der eine frühe Version von sich selbst spielende Clarence Maclin in seinem Schauspieldebüt. Maclin, der in seinen Zwanzigern wegen eines Raubüberfalls zu 17 Jahren Haft verurteilt wurde, lässt uns mit seiner Performance komplett nachvollziehen, wie aus dem einst wütenden Verbrecher der Mann werden konnte, der er heute ist: ein Sozialarbeiter, der mit großem Einsatz versucht, Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen vor einem Abrutschen in die Kriminalität zu bewahren oder den bereits Abgerutschten zu helfen, diese Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Entwicklung der anfänglich von Rivalität und Misstrauen geprägten Beziehung zwischen John und Divine Eye ist das stärkste und berührendste Element dieses gelungenen und sehenswerten Dramas.
Fazit: Ein bewegender Film, der mit brillanten Darstellern und starker Kameraarbeit die Gefängniswelt fernab von Klischees eindrucksvoll zeigt.