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    Die Sanfte
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Die Sanfte
    Von Carsten Baumgardt

    Als der seit 2001 in Deutschland lebende, ursprünglich aus der Ukraine stammende Sergei Loznitsa („Mein Glück“, „Austerlitz“) Mitte der 1990er Jahre seine ersten Dokumentationen über die russische Geschichte drehte, waren diese noch von einer Leichtigkeit und Ironie geprägt, die der Regisseur inzwischen vollkommen verloren zu haben scheint - was bei den aktuellen Geschehnissen gerade in der Ukraine allerdings auch kein Wunder ist. Inzwischen sind vor allem seine Spielfilme wie zuletzt „Im Nebel“ bittere, tieftraurige, kaum noch ein Fünkchen Hoffnung zulassende Parabeln. Auch sein im Wettbewerb von Cannes 2017 uraufgeführtes Drama „Die Sanfte“, inspiriert von der gleichnamigen Kurzgeschichte von Fjodor Dostojewski, erweist sich nun als knapp zweieinhalbstündige Abrechnung mit Mütterchen Russland – eine am Mythischen kratzende, grimmig-kafkaeske Odyssee durch ein verrottetes System aus Korruption, Machtmissbrauch und Unmenschlichkeit.

    Die schweigsame Alyonka (Vasilina Makovtseva) arbeitet als Nachtwächterin in einem kleinen Dorf in der russischen Provinz, wo sie darauf wartet, ob ihr (womöglich unschuldig) wegen Mordes inhaftierter Ehemann noch einmal aus dem Gefängnis entlassen wird. Immer wieder schickt sie ihm Pakete mit Dingen für den täglichen Bedarf, aber als eine der Sendungen kommentarlos zurückkommt und sie auch sonst keine Infos erhält, macht sie sich auf die Reise nach Sibirien, um vor Ort nach ihrem Geliebten zu schauen. Allerdings stößt sie dort auf wenig Akzeptanz, die Gefängnisangestellten geben keinerlei Auskunft, lehnen Anträge ohne Begründung ab und schikanieren die Besucher, wenn sie lästige Fragen zu stellen beginnen. Während Alyonka weiter versucht, etwas über ihren Ehemann zu erfahren, kommt sie in einer Pension in der nahegelegenen Stadt unter, wo ihr allerlei ebenso geschäftstüchtige wie zwielichtige Figuren ihre Hilfe anbieten…

    Regisseur Loznitsa selbst hat gesagt, dass er sich mit seinem Film dem mythologischen Kern des Landes nähern will – und tatsächlich stehen im eigentlichen Zentrum von „Die Sanfte“ lange Zeit gar nicht Alyonka und ihre Suche, sondern die Geschichten, die sich die Menschen um sie herum erzählen. Es gibt mehrere lange Szenen, in denen die Protagonistin nur schweigend herumsteht oder sitzt, etwa im Bus oder in der Bahn nach Sibirien, während die Kamera von Oleg Mutu („4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage“) immer wieder von ihr weg zu den Mitreisenden schwenkt, die sich gegenseitig kleine Anekdoten erzählen oder auch mal zu singen anfangen. „Die Sanfte“ wird durch diese Seitenblicke zu einem Film der 1.000 Geschichten, die sich langsam wie ein Mosaik zu einem vielschichtigen Bild von Russland zusammensetzen. Wenn so etwas wie Hoffnung in den kurzen Erzählungen aufkeimt, dann handeln diese meist von der Menschlickeit der Einzelnen (etwa wenn die Passagiere eines vollbesetzten Busses alle gemeinem einen Sarg über ihren Köpfen halten, dessen Besitzer zwar Geld für die Beerdigung, aber nicht für den Transport aufbringen konnte). Am Staat lässt hingegen kaum jemand ein gutes Wort.

    In Dostojewskis „Die Sanfte“ geht es um die Beziehung zwischen einem Folterer und seinem Opfer, die in der Geschichte auch noch Mann und Frau sind. Loznitsa greift in seinem Film immer wieder Motive aus der Vorlage auf - nur ist der Peiniger bei ihm der Staat und die leidende Bevölkerung ist das Opfer, exemplarisch vertreten durch Alyonka. Die schonungslose Systemkritik, die sich mit Alyonkas Ankunft im Gefängnis dann auch nicht länger nur in erzählten Geschichten, sondern ganz real in Form ständiger Verweigerung und Terrorisierung manifestiert, ist nicht gerade subtil (einige der Metaphern verlieren aufgrund ihrer Überdeutlichkeit sogar etwas von ihrer Wirkung), aber Loznitsa geht eben konsequent dahin, wo es wirklich weh tut. Nachdem das Publikum gemeinsam mit Alyonka etliche Schikanen und Rückschläge durchlebt hat, wendet sie sich als letzte Hoffnung an ein Menschenrechtsbüro voller überarbeiteter Aktivisten – und dort wird nicht nur schnell klar, dass Alyonka nur eine von vielen ist, ihr Fall ist sogar noch einer der „harmloseren“, immerhin geht es bei ihr nicht um illegale Intimuntersuchungen mit anschließenden vaginalen Blutungen - um nur eins der erschütternden Beispiele zu nennen.

    Alyonka bleibt lange Zeit namenlos, nur ein einziges Mal gibt sie ihren Namen preis, während sie mit stur ausdruckslosem Gesicht gegen die behördlichen Windmühlen ankämpft – nicht einmal mehr Verzweiflung oder Verbitterung lässt sich noch im Gesicht der Schauspielerin Vasilina Makovtseva ablesen, es ist einfach nur leer, wenn Alyonka sich störrisch vor dem Gefängniseingang postiert (was die Wachen aber kaum interessiert, sie fahren einfach an ihr vorbei) oder widerspruchslos mit jedem noch so zwielichtigen Gesellen mitgeht, der ihr möglicherweise helfen könnte (aber sie realistisch wohl doch nur in die Pfanne hauen wird).

    Aber gerade, wenn man sich an die Abwärtsspirale des alltäglichen Systemhorrors gewöhnt (und es sich nach fast zwei Stunden darin vielleicht sogar ein wenig bequem gemacht) hat, zieht Loznitsa seinem Publikum plötzlich den Boden unter den Füßen weg und das naturalistische Drama kippt plötzlich in ein surreales Spektakel. Dann entfacht der Film ein theaterhaft-irreales Inferno, in dem Alyonka in ein Schneewunderland der Korruption kutschiert wird, wo die übrigen Figuren des Films wie eine Art Geheimbund zusammenkommen und wie bei einer albtraumhaften Karnevalssitzung über ihre Motive referieren. Ein dramaturgisch gewagter, aber brillant inszenierter Ausritt in lyncheske Mystery-Gefilde, der in einem brutalen Gewaltakt seinen verstörenden Höhepunkt findet. Schon recht zu Beginn fasst eine der Figuren einmal passend zusammen: „A Great Country, Fucked Up!” – am Ende von „Die Sanfte“ gilt das nicht länger nur für das reale Russland, sondern auch für das Russland aus den Träumen der Menschen.

    Fazit: Das parabelartige Drama „Die Sanfte“ ist eine harsch naturalistische, kompromisslos unnachgiebige Gesellschaftsanklage, die gegen Ende plötzlich in theatralisch-surrealen Wahnsinn umschlägt – aber das ist auch kein Wunder, denn bei diesem Russland bleibt einem kaum noch etwas anderes übrig, als erst den Glauben an das System und dann den Verstand zu verlieren.

    Wir haben „Die Sanfte“ bei den 70. Filmfestspielen in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wird.

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