Die Flüchtlingskrise hält seit 2015 ganz Europa und weitere Teile der Welt in Atem - sie bringt alteingesessene Ideologien ins Wanken und spült Populisten in die Parlamente (oder gleich an die Regierung). Ungarn spielt in dieser Notsituation, in der Millionen Menschen vor allem aus Syrien dem Terror entfliehen, gerade keine sonderlich rühmliche Rolle: Forciert oder zumindest gedeckt von der populistischen Regierung Viktor Orbans heißt die Maxime Abschottung. Grenzen werden geschlossen und mitunter machen die Grenzschützer sogar regelrecht Jagd auf die Flüchtlinge. Mitten in dieses angespannte gesellschaftliche Klima knallt „Underdog“-Regisseur Kornél Mundruczo nun einen vogelwilden Genrefilm: Sein übernatürlicher Fantasy-Thriller „Jupiter’s Moon“ um einen schwebenden Flüchtling ist ein unerbittlich-anklagender Kommentar zur gegenwärtigen Situation im politisch verkommenen Ungarn, wo Unbarmherzigkeit, Korruption und Selbstsucht die Gesellschaft dominieren. Die Botschaft des Films ist trotz der reißerischen Inszenierung (mit einem krachenden Shootout über mehrere Hotelstockwerke hinweg) klar: Wenn wir nicht bald die Menschlichkeit nach Europa (so heißt übrigens auch der einzige Jupitermond mit gefrorenem Wasser) zurückbringen, dann Gnade uns Gott!
Der junge Syrer Aryan Dashni (Zsombor Jéger) flieht mit seinem Vater Muraad (David Yengibarian) über die serbische Grenze nach Ungarn, wo bereits ein staatliches Begrüßungskommando auf die unerwünschten Ankömmlinge wartet. Auf der Flucht wird Aryan von dem Polizisten Laszlo (György Cserhalmi) gestellt und mit drei Schüssen in den Oberkörper niedergestreckt. Eigentlich müsste Aryan mausetot sein, doch stattdessen steigt er plötzlich in die Luft, wirbelt wild herum und stürzt durch eine Baumkrone, bevor er schließlich in der Krankenabteilung des Flüchtlingscamps wieder zu sich kommt. Dort behandelt ihn Dr. Gabor Stern (Merab Ninidze), der die wundersamen Fähigkeiten Aryans fortan für seine ganz eigenen Zwecke ausnutzen will: Der verschuldete Stern kennt nämlich eine Menge ebenso reicher wie religiöser Patienten, die er mit so einer kleinen Schwebeeinlage bestimmt leicht ausnehmen könnte. Polizist Laszlo macht derweil Jagd auf Aryan, um seinen offensichtlich ungerechtfertigten Schusswaffeneinsatz gegen einen Wehrlosen unter den Teppich zu kehren…
In dem Projekt sollte es ursprünglich gar nicht speziell um die Flüchtlingskrise gehen, stattdessen faszinierte Kornél Mundruczo laut eigener Aussage ganz generell die Idee von Wundern in Krisenzeiten. Doch je weiter sich „Jupiter’s Moon“ entwickelte, desto weniger konnte der Regisseur noch die Distanz zu den aktuellen Ereignissen bewahren. So ist die Handlung nun eben nicht wie eigentlich geplant in der Zukunft angesiedelt, sondern in der Gegenwart, die trotz der genrefilmtypischen Stilmittel immer düster-real, in den Flüchtlingscamp-Sequenzen zu Beginn sogar fast schon dokumentarisch wirkt. Mundruczo zeigt das moderne Ungarn als einen unwirtlichen Ort, an dem sich jeder selbst der nächste ist. Korruption ist ein Übel, das die gesamte Gesellschaft durchzieht, jeder versucht, seinen Vorteil aus den Notsituationen anderer zu ziehen: Ärzte, Polizisten, Hotelangestellte – alle halten die Hand auf. Noch weiter unten in der Nahrungskette stehen die Flüchtlinge, denn Ungarn ist nun wirklich das letzte Land, in dem man sich eine „Refugees Welcome“-Kampagne vorstellen könnte.
Dass die Flüchtlinge erst später in der Entwicklungsphase dazugekommen sind, merkt man dem dramaturgisch holprigen „Jupiter’s Moon“ auch an. Nach dem Beginn im Camp werden sie schnell an den Rand der Erzählung gedrängt (der einzige Flüchtling neben Aryan, der mehr als eine Statistenrolle bekleidet, entpuppt sich später als Terrorist und sprengt eine U-Bahn in die Luft ...). Stattdessen entpuppt sich „Jupiter’s Moon“ als ziemlich abgefahrenes Genrekino mit Arthouse-Touch, bei dem mit hemdsärmelig-rustikaler Gangart der Spannungslevel konsequent hochgehalten wird. Der Plot weitet sich schon früh zu einer langgezogenen Hetzjagd, immer angetrieben von Cop Laszlo, der den Wunderjungen und seinen Ziehvater/Vermarkter unbedingt aus dem Verkehr ziehen will. Leider ist Stern die einzige Figur, die im Verlauf der Handlung eine Entwicklung durchmachen darf – um ihn herum bevölkert Mundruczo seinen Film mit den üblichen Thriller-Stereotypen. Aber dafür verkörpert Hauptdarsteller Merab Ninidze („Nirgendwo in Afrika“) den Anti-Helden mit Film-noir-Anklängen ebenso charismatisch wie markig. Immer wieder hinterfragt er seinen zu Beginn noch stolz herausposaunten Status als Ungläubiger – mit einem echten Engel an seiner Seite kein Wunder!
Das mit dem Engel meint Mundruczo übrigens absolut ernst – er will den Ungarn mit einem Wunder, und sei es auch nur eines in seinem Film, wieder ein wenig Hoffnung geben. Aber ob das klappen wird, ist mehr als fraglich – zum einen sieht man so ein „Wunder“ auch in jedem Marvel-Film und zum anderen macht die ebenfalls unterentwickelte Figur des Aryan letztlich auch nicht viel mehr als in der Gegend herumzuschweben. „Jupiter’s Moon“ ist also weniger ein Hoffnungsspender als vielmehr ein kurzweilig-wilder Kino-Ritt: Die krachende Inszenierung in dreckiger Hochglanzoptik mit flotter Action, Verfolgungsjagden und Schießereien macht Laune – und zumindest für den Unterhaltungswert spielt es letztendlich keine große Rolle, dass die Kritik an der ungarischen Gesellschaft nicht sonderlich subtil ausfällt.
Fazit: Die Kritik an den aktuellen Geschehnissen in Ungarn ist zwar treffend, aber nicht gerade besonders tiefgehend oder originell – allerdings präsentiert sich „Jupiter’s Moon“ in erster Linie eben auch als knallig-wüster Genrefilm, die Flüchtlingskrise in Europa liefert dafür nur einen passenden Hintergrund.
Wir haben „Jupiter’s Moon“ im Rahmen der 70. Filmfestspiele in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wird.