Obwohl ihre vorherigen zwei Spielfilme „Daddy Longlegs“ und „Heaven Knows What“ bei ihrer Kinoauswertung gerade mal 33.000 beziehungsweise 80.000 Dollar einspielten, haben Ben und Joshua Safdie mit ihren Low-Low-Budget-New-York-Filmen in der amerikanischen Indie-Szene für mächtig Aufsehen gesorgt. Denn die regieführenden Brüder streben in ihren Werken so sehr nach Authentizität, dass sie ihren Drogen-Liebesfilm „Heaven Knows What“ sogar mit der tatsächlich obdachlosen Heroinsüchtigen Arielle Holmes in der Hauptrolle besetzt haben. Ihr dritter Spielfilm „Good Time“, mit dem sie es direkt in den prestigeträchtigen Wettbewerb des Cannes-Filmfestivals geschafft haben (in der Regel kommt man als Indie-Hoffnung erst mal in einer der Nebenreihen unter), bedeutet nun allerdings in gleich mehrerlei Hinsicht eine Abkehr von ihrem bisherigen Schaffen: Nicht nur war das Budget deutlich höher, mit diesem Gangsterthriller drehten sie auch zum ersten Mal einen (Retro-)Genrefilm und die Hauptrolle spielt mit Robert Pattinson ein echter Hollywoodstar. Zugleich ist die Handschrift der Geschwister aber auch hier absolut unverkennbar – und gerade die für die Safdie-Brüder typischen Elemente sind es dann auch, die „Good Time“ zu etwas Besonderem machen.
Der Bankraub selbst verläuft noch überraschend reibungslos, aber dann explodiert in der erbeuteten Tasche eine Farbgranate: Während dem Kleingangster Connie Nikas (Robert Pattinson) mit der eingefärbten Beute trotzdem noch die Flucht gelingt, landet sein geistig behinderter Bruder Nick (Ben Safdie) erst im Knast und nach einer Schlägerei mit einem Mithäftling schließlich unter Polizeibewachung im Krankenhaus. Connie bleibt nur wenig Zeit, um noch 10.000 Dollar für einen Kautionsagenten aufzutreiben, denn der will die pinkfarbenen Banknoten nicht annehmen - zumindest nicht zum vollen Wert. Nachdem der Versuch scheitert, sich die benötigte Kohle von seiner Freundin Corey (Jennifer Jason Leigh) zu leihen, beschließt Connie, zu drastischeren Maßnahmen zu greifen und seinen Bruder einfach aus dem Krankenhaus zu entführen – allerdings unterläuft ihm dabei ein folgenschwerer Fehler …
Der eigentliche Genreplot wird von einer erzählerischen Klammer umschlossen: Zu Beginn und am Ende sehen wir, wie Nick in einer Einrichtung für geistig behinderte Menschen therapiert wird – es sind extrem naturalistische Szenen, die genauso gut auch aus einer Dokumentation stammen könnten. Wenn dann Connie hereingestürmt kommt, die Therapie für unsinnig erklärt und Nick mit zu dem Bankraub schleppt, dann wirkt das fast so, als würde er seinen Bruder in diesem Moment aus dem wahren Leben herausreißen und sich mit ihm gemeinsam kopfüber in einen 80er-Jahre-Thriller stürzen (Retro-Titelschriftzug und Synthie-Jazz-Score inklusive).
Aber so leicht lässt sich die Realität (zumindest bei den Safdies) nicht draußen halten – während die Genregesetze den nächsten Twist, die nächste Verfolgungsjagd oder die nächste Schlägerei einfordern, drängt der Alltag am gesellschaftlichen Rand des Big Apple mit aller Macht zurück in den Film, und sei es auch noch so beiläufig und unscheinbar. So schildern die Regisseure etwa die Logistik eines Rollstuhlfahrertransports viel präziser als für den Plot nötig und wenn Connie den Kühlschrank in einer ihm fremden Wohnung öffnet, gilt es in der gerade einmal zwei Sekunden langen Einstellung ein ganzes gelebtes Leben im sozialen Abseits zu entdecken. Diese authentischen Einschübe verleihen „Good Time“ eine vibrierende Vitalität, die sich auch mit noch so schnellen Schnitten niemals faken ließe.
Das tiefe Verständnis der Regisseure für ihre Stadt spiegelt sich aber nicht nur in dem erstaunlichen Gefühl für das soziale Gefüge, sondern auch in allen anderen Elementen des Films deutlich wieder. So wird man nach den üblichen Touristen-Aufnahmen von Manhattan oder Coney Island in „Good Time“ jedenfalls vergeblich Ausschau halten. Stattdessen spielt eine der visuell und atmosphärisch aufregendsten Passagen des Films in dem weniger bekannten, etwas östlich von New York gelegenen Vergnügungspark „Adventureland“. Obwohl die Safdie-Brüder gar keinen Hehl daraus machen, dass sie sich mit ihrem Film auf das New Yorker Straßen- und Nachtkino der 1980er Jahre beziehen (das sieht man wie gesagt schon am Titelschriftzug), wirkt „Good Times“ auch deshalb nie wie eine Hommage oder gar wie Meta-Zitat-Kino, sondern absolut frisch und unverbraucht.
Und mittendrin: Ex-Glitzervampir Robert Pattinson, der seinen „Twilight“-Ruhm zwar schon seit einigen Jahren immer wieder für aufregende kleinere Projekte von David Cronenbergs „Cosmopolis“ über Werner Herzogs „Königin der Wüste“ bis hin zu James Grays „Die versunkene Stadt Z“ in die Waagschale wirft, aber trotzdem noch nie so gut war wie jetzt in „Good Time“. Mit ungepflegtem Bart und schlecht gefärbten Haaren verschwindet das einstige Teenie-Idol vollständig hinter seiner Rolle und liefert so neben Adam Sandler (in „The Meyerowitz Stories“) eine der herausragenden Performances im Cannes-Wettbewerb 2017: Es sind also ausgerechnet zwei der in der vergangenen Dekade am häufigsten belächelten und am übelsten geschmähten Schauspieler, die es in diesem Jahr all den Hatern da draußen mal so richtig zeigen.
Fazit: Ein abgefahren-atmosphärischer New-York-Thriller, der vor allem immer dann begeistert, wenn von allen Seiten das wahre Leben in den ansonsten sehr klassischen Genreplot hineindrängt.
Wir haben „Good Time“ bei den 70. Filmfestspielen in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wird.