Der Titel passt perfekt. Denn selbst wenn Bulgarien nun nicht unbedingt im Westen liegt, erinnern die deutschen Montagearbeiter und die einheimischen Dorfbewohner trotzdem in vielerlei Hinsicht an Cowboys und Indianer – die Deutschen bringen mit einem Wasserkraftwerk den (vermeintlichen) Fortschritt, sie markieren mit einer eilig im Bauarbeiterlager aufgehängten Deutschlandfahne ihr „Fort“, sie reiten (halb)wilde Pferde und Hauptdarsteller Meinhard Neumann erinnert sogar ein wenig an den einsamen Westernhelden Clint Eastwood. Trotzdem ist „Western“, der beim Filmfestival in Cannes in der Sektion „Un Certain Regard“ seine Premiere feierte, zu keiner Sekunde klassisches Metaphern- oder selbstreferenzielles Meta-Kino. Stattdessen wirkt der dritte Spielfilm von Valeska Grisebach („Mein Stern“, „Sehnsucht“) einfach nur in einem solchen Maße authentisch, dass wohl selbst viele Dokumentarfilmer vor Neid erblassen dürften: In dem ausschließlich mit Laiendarstellern besetzten Drama bekommt man nämlich nie das Gefühl, Grisebach würde ihre Protagonisten (wie Cowboys ihre Rinder) in die Richtung eines vorab festgelegten erzählerischen Ziels treiben. Vielmehr wirkt es so, als würden die Figuren einfach ihr Ding machen und Grisebach sie dabei lediglich mit der Kamera begleiten (das mag einfach aussehen, aber gerade das ist ja die Kunst).
Meinhard (Meinhard Neumann) ist zum Arbeiten und Geldverdienen nach Bulgarien gekommen – mit seinen Kollegen haust er in einer mitten im Nichts gelegenen, an eine kleine Ferienanlage erinnernde Bauarbeitersiedlung, während es mit der Konstruktion eines Wasserkraftwerks wegen Nachschubproblemen nur schleppend vorangeht (es gibt nicht mal genug Wasser für das Betonanrühren auf der Baustelle, trotzdem denkt keiner auch nur einer eine Sekunde darüber nach, ob ausgerechnet ein Wasserkraftwerk in dieser Gegend dann überhaupt eine so tolle Idee ist). Während die anderen Arbeiter abends lieber unter sich bleiben und sofort paranoid werden, wenn sie in der Nähe der Anlage Bulgaren entdecken, reitet Meinhard immer wieder in das nahegelegene Dorf und freundet sich schließlich trotz der Sprachschwierigkeiten sogar mit einigen der Bewohner an…
In den ersten Minuten lugt man selbst als deutscher Muttersprachler immer mal wieder in Richtung der Untertitel – der unverfälschte Bauarbeitersprech gehört eben auch zum authentischen Duktus des Films dazu. Erst wenn sich Vorarbeiter Vincent (Reinhardt Wetrek) beim Baden im Fluss gegenüber einer jungen Einheimischen ungehörig benimmt (übrigens eine Parallele zu dem Verhalten, dass hierzulande oft männlichen Flüchtlingsgruppen vorgeworfen wird), scheint „Western“ erstmals klassische Genrepfade einzuschlagen – als Westernkenner weiß man schließlich, wo so etwas (zwangsläufig) hinführt. Aber genau wie bei später ebenfalls noch angedeuteten klassischen Konfliktsituationen wie einem Fahnendiebstahl oder einer Wasserknappheit (es gibt nur genug für entweder die Baustelle oder das Dorf), entwickelt sich „Western“ nie in die offensichtliche Richtung – zugleich stellt Grisebach aber auch nie aus, dass sie da gerade die Erwartungen des Publikums unterläuft, es fühlt sich einfach alles ganz natürlich an (gerade die beiläufig-versöhnliche Auflösung des Fahnenvorfalls ist besonders toll gelungen).
Vor zwölf Jahren ist Valeska Grisebach monatelang übers Land gefahren, um den passenden Laiendarsteller für die Rolle des Schlossers Markus in ihrem Liebesdreiecksdrama „Sehnsucht“ zu finden – und das gutmütig-melancholische Gesicht von Andreas Müller, der anschließend in keinem anderen Film mehr mitgespielt hat, geht einem tatsächlich nicht mehr aus dem Kopf. In „Western“ gelingt der Filmemacherin ein ähnlicher Besetzungscoup – wir wissen nicht, wie lange sie diesmal gesucht oder wo sie ihn schließlich gefunden hat, aber Meinhard Neumann hat in der Rolle des bis zum Schluss widersprüchlichen Schnurrbartträgers ebenfalls ein Gesicht, das man so schnell nicht wieder vergessen wird: Wenn der schweigsame Ex-Soldat, der in Afghanistan und Afrika gedient hat, einen ihn nachts von hinten anspringenden Spaßmacher innerhalb einer Millisekunde instinktiv ausknockt, dann hat Meinhard fast schon etwas von einem mythischen Helden – zumal er zuvor auch schon ein womöglich wildes Pferd gebändigt hat.
Das genretypische Bild des weisen einsamen Helden bleibt aber nicht lange ungebrochen – und so zeigen sich in der klassischen Figur des Fremden-Verstehers (in Western ist ja auch oft derjenige Cowboy der weiseste, der erkennt, dass es falsch ist, die Indianer einfach abzuschlachten) schließlich immer mehr spannende Widersprüche: So versucht er zwar zwischen seinem auf den Bauerfolg bedachten Boss und den auf ihr Wasser pochenden Dorfbewohnern zu vermitteln und zeigt sich auch sonst immer freundlich und hilfsbereit, aber dann rastet er auch wieder fast völlig aus, als einer der armen Schlucker ihn um die Rückgabe des Geldes bittet, das Meinhard ihm beim Poker abgenommen hat. Zudem wird auch das zuvor skizzierte Bild des kriegsgestählten Bodyguards, der mit Fäusten, Messern und Gewehren gleichsam gut umgehen kann, in einer einzigen kurzen Szene wieder eingerissen – ein Faustschlag eines Halbstarken und schon fällt das mythische Kartenhaus in sich zusammen und aus dem legendenumwobenen Loneman wird auf dem Dorffest ein Tänzer unter vielen.
Fazit: Valeska Grisebach etabliert in den ersten Filmminuten ein zeitgemäßes Western-Szenario an der griechisch-bulgarischen Grenze – folgt dann aber eben nicht den üblichen Genreregeln bis zum obligatorischen Standoff, sondern lässt ihre Figuren ganz frei ihren eigenen Weg finden (oder eben auch nicht finden). Dabei sind Schauspiel und Inszenierung in einem solch unglaublichen Maße spezifisch, dass die Grenzen zum Dokumentarischen immer wieder verschwimmen – und Meinhard Neumann ist in der Hauptrolle nicht nur eine Entdeckung, sondern ein Ereignis!
Wir haben „Western“ im Rahmen der 70. Filmfestspiele in Cannes 2017 gesehen, wo er in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigt wird.