Fünf lange Jahre hat es gedauert, bis die deutsche Justiz die neun zwischen 2000 und 2006 aus rassistischen Motiven verübten Morde in verschiedenen deutschen Großstädten endlich aufklären konnte – also bis 2011 die Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe als Teil der rechtsextremen Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) als Täter ermittelt wurden. Dieser Skandal um die schlampige Arbeit der Polizei, die sich lange Zeit auf Ermittlungen im Drogenmilieu versteifte und voreilig davon ausging, dass sich da wohl mal wieder Migranten gegenseitig umgebracht haben, sorgte auch bei dem deutsch-türkischen Filmemacher Fatih Akin („Gegen die Wand“, „Tschick“) für große Empörung. Nun arbeitet der gebürtige Hamburger mit türkischen Eltern die NSU-Morde anhand einer fiktiven Geschichte auf: Der im Cannes-Wettbewerb uraufgeführte „Aus dem Nichts“ ist ein aufwühlender Mix aus Terrorismus-, Gerichts- und Rache-Drama, der sich ausschließlich auf die Opferperspektive konzentriert. Akin übt scharfe Kritik an den Ermittlungsbehörden und stellt die Frage nach einer möglichen moralischen Rechtfertigung von Rache, die er zum Schluss provozierend eindeutig beantwortet. Auch weil Hollywoodstar Diane Kruger („Troja“, „Inglourious Basterds“) in ihrer ersten deutschsprachigen Hauptrolle mitreißt, entwickelt „Aus dem Nichts“ eine unglaubliche kathartische Kraft, die einen auch über den einen oder anderen arg manipulativen Moment hinwegsehen lässt. Akin ist halt sauer, und das ja auch vollkommen zu Recht.
Der geläuterte türkischstämmige Drogenhändler Nuri Sekerci (Numan Acar) hat im Knast nicht nur BWL studiert, sondern auch seine Freundin Katja (Diane Kruger) geheiratet. Nach seiner Entlassung eröffnet der agnostische Kurde in Hamburg ein Übersetzungsbüro. Aber dann verliert Katja bei einem Anschlag mit einer Nagelbombe nicht nur ihren Mann, sondern auch den gemeinsamen sechsjährigen Sohn Rocco (Rafael Santana). Kurz vor dem Anschlag hat sie am Tatort noch eine blonde junge Frau gesehen, die ihr neues Fahrrad nicht abschließen wollte. Trotzdem ermittelt die Polizei erst einmal in eine andere Richtung und geht von einem Racheakt unter Drogenhändlern aus. Doch dann wendet sich das Blatt plötzlich doch noch: Die Neonazi-Eheleute André (Ulrich Friederich Brandhoff) und Edda Möller (Hanna Hilsdorf) werden als Hauptverdächtigte festgenommen. Mit einer vermeintlich wasserdichten Beweislage erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage wegen heimtückischen Mordes…
„Aus dem Nichts“ ist ein zutiefst persönlicher, wütender und wütend machender Film. Akin nimmt die ganze Sache sichtlich persönlich und so geht es hier auch nicht um die differenzierte Aufarbeitung von Terrorismus, sondern ganz explizit um ein Opfer, das endlich seine verdiente Gerechtigkeit bekommen soll (wobei sicherlich nicht jeder mit Akin einer Meinung sein wird, was genau als gerecht und richtig anzusehen ist): So ist die flippige Studienabbrecherin Katja mit ihrem halbfertigen Samurai-Tattoo dann auch das eindeutige emotionale Zentrum des Films und die Identifikationsfigur – während alles um sie herum, von den Strafermittlungen bis zum Gerichtsprozess, betont nüchtern und naturalistisch geschildert wird, fackelt die gebürtige Deutsche Diane Kruger in der bisher klar besten Performance ihrer Karriere ein Feuerwerk der Emotionen ab. Mühelos bringt sie das Publikum mit ihrer Vitalität und Fragilität hinter sich, selbst in den weniger glorreichen Momenten, etwa wenn sich Katja zur Schmerzbetäubung allerlei Drogen reinpfeift. Sie fühlt und sie leidet, während alles um sie herum einfach nur irgendwie geschieht, ganz sachlich und kalt.
Auch in den ansonsten kühl protokollierten Gerichtsszenen ist Katja die einzige, die Gefühle zeigen darf – an einer Stelle scheint sie sogar regelrecht zu zerbersten, als eine Gutachterin in allen grausamen Details und mit wissenschaftlicher Professionalität erläutert, wie genau Nuri und Rocco durch die Explosion zerfetzt, verbrannt und getötet wurden. Nur ein einziges Mal gehen auch mit Katjas sonst so diszipliniertem Anwalt Danilo Fava (Denis Moschitto, „Chiko“) die Pferde durch, als der die perfiden Tricks und zynischen Störfeuer des aalglatten Verteidigers Haberbeck (Johannes Krich) nicht mehr ertragen kann und für seine bewegte und bewegende Ansprache Applaus im Gerichtssaal erntet. Eine solche Zuspitzung ist natürlich immer auch Manipulation – die Frage nach einer moralischen Rechtfertigung für Rache stellt sich in „Aus dem Nichts“ irgendwann gar nicht mehr. Spätestens wenn Katja sich ihr Samurai-Tattoo fertigstechen lässt, will man ihr jedenfalls nur noch zurufen: „Los, hol sie dir!“
Deshalb ist es auch gut, dass das zu Beginn noch sehr breite erzählerische Spektrum, in dem es nur so von Freunden, Eltern, Ermittlern, Anwälten, Richtern und Zeugen wimmelt, von Akin im dritten und letzten Akt noch einmal konsequent verengt und von jeglichem moralischen Ballast befreit wird, sodass das Finale fast schon an einen klassischen Western-Showdown erinnert. Die NSU-Morde mögen der emotionale Antrieb für „Aus dem Nichts“ gewesen sein, aber der Regisseur verarbeitet sie in seinem Film nur nebenbei, etwa mit einigen Seitenhieben auf die Ermittlungsarbeit (der zuständige Kommissar fragt Katja nach dem Tod ihres Mannes als allererstes, ob Nuri denn Moslem gewesen sei). Stattdessen liefert er eine explosive Katharsis für all den Mist, der da in den vergangenen 17 Jahren passiert und schiefgelaufen ist – da mag angesichts von Akins Konsequenz manch einer ganz schön schlucken müssen, aber dafür war es jetzt auch einfach mal an der Zeit.
Fazit: Faith Akins Rachefilm „Aus dem Nichts“ ist keine differenzierte Terrorismusbetrachtung, sondern ganz im Gegenteil bewusst subjektiv und ähnelt in der Art der manipulativen Zuspitzung den rohen Werken des Rape-&-Revenge-Genres. Die nachvollziehbare, ehrlich empfundene und in jeder Einstellung deutlich spürbare Empörung des Regisseurs und eine überragende Diane Kruger als angeschlagener Racheengel reißen das Publikum über alle moralischen Bedenken hinweg mit – bis zum provokant-eindeutigen Schlussakkord.
Wir haben „Aus dem Nichts“ bei den 70. Filmfestspielen in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wird.