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    The Killing Of A Sacred Deer
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Killing Of A Sacred Deer
    Von Carsten Baumgardt

    Der Grieche Yorgos Lanthimos hat sich mit seinem verstörenden Arthouse-Triple „Dogtooth“, „Alpen“ und „The Lobster“ in der Liste der aufregendsten Gegen-den-Strom-Regisseure ganz weit oben festgesetzt – und offenbar hat er auch nicht vor, demnächst mal einen weniger strangen Film zu drehen: Sein zweites englischsprachiges Werk „The Killing Of A Sacred Deer“ ist ein von der griechischen Mythologie inspiriertes, ausgestellt metaphorisches Rache-Drama –  provokant, beklemmend, aber auch höllisch unterhaltsam und immer fesselnd. Lanthimos knüpft sich darin einen eigentlich sehr simplen Horror-Plot vor und gibt der Handlung, aber auch der Inszenierung einen kleinen verfremdenden Dreh ins Surreale. Er verliert dabei nie den Wirklichkeitsbezug, aber er federt die archaische Grausamkeit der an Euripides‘ Tragödie „Iphigenie in Aulis“ angelehnten Prämisse – ein Vater muss eines seiner Kinder opfern, um ein noch schlimmeres Unheil zu verhindern – etwas ab und dafür kann man Zuschauer letztlich nur dankbar sein. Denn auch so sind die Qualen, von denen hier erzählt wird, teilweise kaum zu ertragen.

    Der Herzchirurg Steven Murphy (Colin Farrell) und die Augenärztin Anna (Nicole Kidman) führen mit ihren Kindern Kim (Raffey Cassidy) und Bob (Sunny Suljic)  auf den ersten Blick ein Familienleben wie im Bilderbuch. Es herrscht Harmonie, das Haus ist riesig und Geld ist auch mehr als ausreichend vorhanden. Aber mit dem Auftauchen des 16-jährigen Martin (Barry Keoghan) geht es für die Murphys steil bergab. Steven hat sich aus Schuldgefühlen heraus mit dem Teenager angefreundet, nachdem Martins Vater bei einem Routineeingriff auf seinem Operationstisch verstorben ist. Doch der junge Mann, der sich nach und nach mit der ganzen Familie Murphy anfreundet, sucht nicht etwa emotionalen Halt, sondern will ganz einfach nur Rache. Schließlich redet er Klartext: Entweder Steven tötet eines seiner Kinder oder die ganze Familie wird nach und nach elendig verrecken. Minutiös beschreibt Martin wie dieser Niedergang vor sich gehen wird und wenig später landet Bob medizinisch nicht zu erklärenden Lähmung seiner Beine im Krankenhaus …

    Manche Dinge sind so grausam, dass man sie sich im Grunde nicht einmal vorstellen möchte. Yorgos Lanthimos nimmt nun ein solches ungeheuerliches Szenario und entfaltet seinen ganzen Horror. Dabei stimmt hier bereits lange vor Martins perfider Forderung etwas nicht, die Verhaltensweisen sind ins Absonderliche verrückt: Wenn Steven beim Smalltalk mit Bekannten ebenso selbstverständlich über die erste Menstruation seiner Tochter wie über die erste Klavierstunde seines Sohnes berichtet, ist sein sozialer Filter definitiv irgendwie off – genauso wie die irritierend steif-förmlichen Dialoge beim Gespräch zwischen dem Chirurgen und einem Arbeitskollegen, die sich zugleich sehr spezifisch und absolut emotionslos über ihre Begeisterung für Armbanduhren austauschen. Befremdlich wirken auch einige Bildkompositionen und Einstellungsgrößen, so steht die Kamera gerade in den Totalen oft weiter vom Geschehen weg, als man es gewohnt ist – das erzeugt mitunter den Effekt, dass es sich anfühlt, als würde man keine Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Spielfiguren in einem Puppenhaus zuschauen (oder Forschungssubjekten in einer Versuchsanordnung). Das wirkt jedenfalls schon ziemlich bizarr – und wenn Steven schließlich zu Martin nach Hause eingeladen wird, verguckt sich dessen arbeitslose Mutter (90er-Jahre-Sternchen Alicia Silverstone) nicht nur in den Halbgott in Weiß, sie leckt auch gleich noch seine magisch-schönen Hände ab.

    Noch bevor klar wird, wo die Reise überhaupt hingeht, schürt Lanthimos von Anfang an eine Atmosphäre des Misstrauens – sowohl zwischen den Figuren, aber auch zwischen Publikum und Film, denn der Regisseur macht schnell deutlich, dass er sich nicht an die üblichen unausgesprochenen Verträge mit dem Publikum halten wird, weder in Bezug auf die Sehgewohnheiten noch was das Einhalten gewisser moralischer Grenzen angeht. Lanthimos treibt seine Protagonisten gemächlich in die Enge, bis die permanente Anspannung irgendwann in pures Entsetzen kippt, wenn der Plot in seiner ganzen mythologisch-tragischen Tragweite zum Vorschein kommt.

    Geschont wird hier niemand: Während die Murphys dem aufgedrängten Überlebenskampf mit einer betäubenden Ohnmacht begegnen, erinnert die subtil-schonungslose Inszenierung der schicksalhaften Bedrohung in ihren besten Momenten an Stanley Kubricks „The Shining“ (Sunny Suljic als Bob sieht dem Redrum-Jungen Danny auch nicht umsonst ähnlich). Das Ganze steigert sich schließlich in eine Art alttestamentarische Raserei statt in eine kathartische Läuterung wie sie die antike Tragödie vorsieht. Trotz der düsteren Thematik streut Lanthimos aber immer wieder auch Momente voll pechschwarzer absurder Komik ein – etwa wenn sich Anna jedes Mal wie eine narkotisierte Patientin ins Bett legt, wenn sie und ihr Mann Sex haben wollen. Aber das Lachen schafft nur kurz Erleichterung, denn der Horror der Situation hat sich da längst im Hinterkopf eingebrannt.

    Fazit: Yorgos Lanthimos‘ verstörendes Horror-Drama „The Killing Of A Sacred Deer“ ist böse, wirklich böse – ein brillant inszenierter Film, den man definitiv so schnell nicht wieder vergisst!

    Wir haben „The Killing Of A Sacred Deer“ bei den 70. Filmfestspielen in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wird.

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