Kummer in der Komfortzone
Von Sidney ScheringObwohl er gelegentlich auch in andere Rollentypen schlüpft, ist Jesse Eisenberg primär für nachdenkliche Nervöslinge bekannt. Man denke nur an Mark Zuckerberg im Hochspannungs-Drama „The Social Network“, James Brennan aus der Coming-Of-Age-Dramödie „Adventureland“ oder Columbus aus den blutig-komischen „Zombieland“-Filmen. In seiner zweiten Regiearbeit nach „When You Finish Saving The World“ hätte sich Eisenberg nun fast gegen den Strich besetzt, nämlich als ein orientierungsloses, ungehobelt-lautes und sprunghaftes Muttersöhnchen.
Schlussendlich gab Eisenberg diesen Part jedoch an „Succession“-Star Kieran Culkin und besetzte sich selbst stattdessen in gewohnter Manier. Das mag es dem Publikum erleichtern, die Mimen in ihren Rollen zu akzeptieren. Allerdings bedeutet es auch, dass sich Culkin und Eisenberg in „A Real Pain“ arg in ihre jeweiligen Komfortzonen zurückziehen, was der Tragikomödie über Trauer- und Vergangenheitsbewältigung ein Stück weit ihren Zunder nimmt.
Der Neurotiker David Kaplan (Jesse Eisenberg) und sein Faulenzer-Vetter Benji (Kieran Culkin) waren einst unzertrennlich, mittlerweile sehen sie sich aber nur noch selten. Zu Ehren ihrer kürzlich verstorbenen Großmutter raufen sie sich dennoch zusammen und fliegen gemeinsam nach Polen. Hier steht eine geführte Besichtigungstour auf dem Programm, um sich mit ihrer polnisch-jüdischen Herkunft zu beschäftigen und zugleich das Haus zu besichtigen, in dem einst ihre Großmutter lebte. Doch während des Trips brodeln nicht nur alte Konflikte wieder hoch: Weil die Cousins im Umgang mit dem Rest der Reisegruppe sowie intergenerationalen Traumata kaum verschiedener sein könnten, entstehen zudem neue Zwistigkeiten. Aber auch ungeahnte harmonische Augenblicke…
Weil Eisenberg direkt in seinen typischen Modus schlüpft und auch Culkin einen Typus spielt, für den er von seinen Fans eh schon geschätzt wird, ist „A Real Pain“ auf schauspielerischer Ebene frei von Überraschungen. Eisenberg spult den Neurotiker glaubwürdig herunter. Er agiert unter seiner eigenen Regie allerdings auch derart routiniert, dass David entgegen der Aussage des Films, dass Menschen oft vielschichtiger sind, als es zunächst den Anschein hat, wie ein simpler Archetyp wirkt. Ähnlich verhält es sich mit Culkin: Wer ihn nach „Succession“ unbedingt weiterhin als vorlauten Kindskopf sehen will, wird diesen sogar noch hibbeligeren Nachschlag sicherlich begrüßen. Zumal Culkin als himmelhoch jauchzender, zu Tode betrübter Frechdachs die Spielfreude klar anzumerken ist.
Allerdings fehlt Benji jegliche Bodenhaftung – und das hat neben dem Skript vor allem damit zu tun, wie sehr Culkin dem Affen Zucker gibt. Entgegen Eisenbergs nüchternem Inszenierungsstil sowie der zwar schlichten, aber glaubhaften Skizzierung der restlichen Figuren wirkt Benji wie eine übertriebene Hollywood-Schöpfung. Da hilft es auch nicht, dass Eisenberg als Regisseur, Autor und Darsteller mehrmals innehält, um David ausführlich verbalisieren zu lassen, wie komplex Benji doch in Wahrheit sei und wie sehr David ihn daher gleichzeitig bewundert und verabscheut: Benji bleibt trotzdem eine rücksichtslose Nervensäge, die sich vordrängelt, ihre Meinung dreht wie ein Fähnchen im Wind, und die auf sensible Themen zumeist unangebracht-polternd reagiert.
Dass fast nur David davon irritiert ist, während der Rest der Reisegruppe Freude daran hat, ist zwar ein passabler Running Gag. Eisenbergs im Laufe der Handlung etwas zu geradeheraus ausformulierte Absicht, so über verschiedene Formen der Trauerbewältigung (der kühle David, der denkt, Emotionen stets einen geeigneten Ort und eine angemessene Zeit einräumen zu können Vs. Benjis ungefilterte Geradlinigkeit) zu referieren, bleibt dagegen lediglich ein zwar gut gemeinter, aber letztlich doch oberflächlicher Versuch.
Eine sicherere Hand beweist Eisenberg hingegen bei der Skizzierung der Reiseroute: Dass sich die Gruppe – von David abgesehen – vor einem Kriegsdenkmal noch zu absurden Posen hinreißen lässt, auf einem historischen Friedhof dann jedoch Trauer, Ehrfurcht und Wut kollidieren, bevor schließlich die obligatorische KZ-Besichtigung alle verstummen lässt, mag nicht originell sein. Trotzdem ist es ein stimmig umrissener Wandel und Kameramann Michał Dymek kreiert eine Handvoll eindrucksvoller Impressionen der realen Schauplätze. Eisenberg ist außerdem weise genug, den von Will Sharpe pointiert gespielten, sonst so redseligen Tourguide James auf dem Gelände des Konzentrations- und Vernichtungslagers Lublin-Majdanek kaum etwas sagen zu lassen. Das hat er den didaktisch-schwafeligen Auschwitz-Passagen in der ähnlich gelagerten Romanverfilmung „Treasure – Familie ist ein fremdes Land“ definitiv voraus.
So richtig findet sich „A Real Pain“ aber erst, wenn die Grenzen zwischen Film und Inspirationsquelle völlig verschwimmen: David und Benji machen an jenem Haus halt, in dem einst die reale Großmutter des Autors und Regisseurs lebte, die Eisenberg enorm beeinflusste und einer der Gründe dafür war, dass er diesen Film überhaupt gedreht hat. In dieser Sequenz findet Eisenberg die Balance aus Introspektive, unterschiedlich ungelenken Versuchen, mit einem plötzlichen Gefühlsschwall umzugehen, Situationskomik und authentischer Sentimentalität. Dass in dieser Szene Culkin und Eisenberg weniger tief in ihren Archetypen feststecken, mag ein wenig der Charakterentwicklung geschuldet sein. Aber es wirft auch die Frage auf, ob „A Real Pain“ nicht überzeugender wäre, wenn die Schauspieler doch ihre Rollen getauscht und sich so aus ihren Komfortzonen herausgewagt hätten.
Fazit: Jesse Eisenberg spielt in „A Real Pain“ einen typischen Eisenberg-Archetypen und gibt „Succession“-Fans einen großen Nachschlag an Kieran Culkin im Kindskopf-Modus. Das ist zwar zwischendurch unterhaltsam, aber viel zu einfach gestrickt, um dem angerissenen Themenkomplex aus Selbstakzeptanz, Trauerbewältigung, unerwarteter Charaktertiefe und vererbten Traumata vollends gerecht zu werden.