Schwesternliebe, Schwesterngrauen
Von Sidney ScheringZu Beginn der 2010er leistete Schauspielerin Ariane Labed nacheinander gleich zwei wertvolle Beiträge zur sogenannten Greek New Wave – einer Reihe komplexer, schräger Filme aus Griechenland: Zunächst übernahm sie die Hauptrolle in Athina Rachel Tsangaris vielfach prämiertem „Attenberg“ über sexuelle Selbstentdeckung. Ein Jahr später spielte sie im finster-komischen Psychodrama „Alpen“ mit, inszeniert von ihrem „Attenberg“-Szenenpartner Yorgos Lanthimos. Für Lanthimos, mit dem sie seit 2013 verheiratet ist, trat sie später noch einmal vor die Kamera, nämlich in seinem englischsprachigen Debüt „The Lobster“.
Aber auch sonst zieht Labed, mit Ausnahme des Videospiel-Blockbusters „Assassin’s Creed“, eher Filme vor, die aus dem Rahmen fallen, von Joanna Hoggs „The Souvenir“ bis zu Peter Stricklands „Flux Gourmet“. Mit „September Says“ feiert Labed nun ihr abendfüllendes Regie- und Autorinnendebüt – und weckt mit ihrer Adaption von Daisy Johnsons Roman „Die Schwestern“ direkt Erinnerungen an ihre schauspielerischen Ursprünge: Selbst wenn sich die schwarzhumorigen, hochdramatischen, zuweilen schaurigen Ereignisse in Oxford bzw. dem irischen Nirgendwo abspielen, vermeint man zwischen den Bildern doch immer auch eine gewisse merkwürdige, griechische Energie zu spüren...
Die alleinerziehende Künstlerin Sheela (Rakhee Thakrar) hat zwei Töchter: September (Pascale Kann) und July (Mia Tharia) sind unzertrennlich, aber auch grundverschieden. September hat eine dominante Persönlichkeit, die sie gleichermaßen für Schlechtes wie Gutes einsetzt. Einerseits gängelt sie July zu peinlichen bis schmerzhaften Mutproben, andererseits agiert die knurrende, misstrauische September in der Schule als Julys unerbittliche Beschützerin vor den ständigen Mobbing-Attacken ihrer Mitschüler*innen.
July wiederum ist ein regelrechtes Mauerblümchen. Ob sie trotz oder gerade aufgrund von Septembers ständigem Einfluss derart schüchtern ist, wird nicht ganz klar. Unmissverständlich ist aber, dass July ihren Mitmenschen gegenüber neugieriger auftritt und ihnen viel schneller vertraut. Als diese Blauäugigkeit in einen schrecklichen Vorfall mündet, verlässt die Familie abrupt ihr heimisches Oxford und zieht nach Irland. In einem alten Haus, das für Sheela voller unschöner Erinnerungen ist, nimmt die Dynamik zwischen July und September noch einmal völlig neue Formen an...
Dieser ungewöhnlichen, gleichermaßen verstörenden wie faszinierenden Schwesterndynamik haucht Labed Dramatik, Witz und Drastik ein. Ähnliches gilt für den wohlmeinenden, wenngleich nicht unbedingt pädagogisch empfehlenswerten Umgang Sheelas mit ihren Töchtern: Wir lernen July und September kennen, als sie gerade für ein Fotoprojekt ihrer Mutter posieren – blutverschmiert als „Shining“-Zwillingspaar. Aus der Distanz ein amüsanter Anblick, aber der Frust der Schwestern ist nicht zu übersehen, sobald man genauer hinschaut.
Bitterer Weise könnten July und September in ihrer Schule wohl ebenfalls als „Shining“-Zwillinge auftauchen, ohne dass dies etwas an ihrem sozialen Status ändern würde: Die Schwestern sind ständige Mobbing-Zielscheiben, wobei unterschwelliger Rassismus, übertriebene Furcht vor ihren Eigenheiten sowie eine unmotivierte Herdenmentalität Hand in Hand gehen. Dass July sich gar nicht wehrt, treibt die Meute ebenso weiter an, wie Septembers raue Abwehrmechanismen – in diesen Schulszenen fängt Labed pointiert den quälenden, endlos wirkenden Kreislauf von Pausenhofmobbing ein.
Dass September aber nicht bloß Julys einzige Beschützerin ist, sondern gleichzeitig ihre innigste Peinigerin, intensiviert die unheilvolle Stimmung von „September Says“. Erschwerend kommt hinzu, dass sich teils nicht sauber trennen lässt, wo die hilfreiche September aufhört und ihr übergriffiges Ich anfängt. Wenn etwa July im Inbegriff ist, ein intimes Video von sich aufzunehmen, kommt September mit einer Impulsivität hereingepoltert, die infrage stellt, ob sie ihre Schwester tatsächlich vor einer potenziellen Dummheit bewahren will. Womöglich ist sie auch einfach nur ungehalten, weil July ausnahmsweise etwas selbst entschieden hat.
Derartige Fragen türmen sich weiter auf, sobald für Sheela und Anhang die Flucht (?) nach Irland ansteht: Ausgerechnet im biederen, vollgeramschten Haus ihrer Großmutter entfaltet sich July in zuvor ungeahntem Ausmaß. September erwidert dies im vermeintlich verspielten Kontext durch irritierende, harsche Aufforderungen. Aufgebrochen wird die gespenstische Atmosphäre am diesigen Rande Irlands durch komödiantische Einsprengsel – zum Beispiel zeigt Labed erst July und September, dann sogar Sheela, wie sie vor dem piefigen Hausdekor ein vulgäres YouTube-Tutorial nachtanzen. Im humoristischen Höhepunkt reißt Sheela im örtlichen Pub einen Typen auf, was in ein hurtiges, unverbindliches Intermezzo auf einer peinlichen Blümchenbettdecke mündet.
Dieses Wirrwarr aus widersprüchlichen Gefühlen und Erwartungen verdichtet Labed effektiv durch ihre Bildsprache: Die belebte Welt Oxfords fängt Kameramann Balthazar Lab in blaustichigen 16mm-Bildern ein, mit dem Umzug ins irische Häuschen wechselt die Optik auf gelbstichige 35mm-Motive. Konstant bleiben aber Labeds Fokus auf die kompletten Körper ihrer Darsteller*innen – Nahaufnahmen sind rar gesät. Dass dennoch wiederholt Klaustrophobie aufkommt, zeugt von der Wirkung des beengenden Produktionsdesigns und der beklemmenden Klangwelt von Soundtechniker Johnnie Burn („The Zone Of Interest“).
Labed und Filmeditorin Bettina Böhler („Roter Himmel“) lassen viele Momente ausfransen, woraus sich sowohl pechschwarze Komik wie eine intensive Anspannung nähren. Umso aufrüttelnder geraten einige für den Erzählfluss wichtige, aber bewusst abrupte Schnitte, die es gezielt erschweren, so richtig zu begreifen, was diese Familie eigentlich wurmt. Thematisch ist „September Says“ abseits des Kernelements komplizierter Geschwisterbeziehungen somit etwas fahrig geraten – Rassismus, der innerfamiliär weitergegebene Teufelskreis der Gewalt, emotionale Instabilität und Mobbing fügen sich zwar in die Gesamterzählung, etwas mehr Kontur hätte diesen Aspekten dennoch nicht geschadet. Trotzdem weckt „September Says“ große Neugier, wozu Labed als Regisseurin noch alles fähig ist.
Fazit: Wenn die Schwester die beste Freundin und die ärgste Feindin ist, führt das in „September Says“ zu dramatischer Irritation, trocken-bitterem Humor und einer geradezu gespenstischen Anspannung.