Nachdem sie mit ihrem provokanten (Horror-)Drama „We Need To Talk About Kevin“ 2011 erstmals auch außerhalb ihrer schottischen Heimat einen veritablen und vor allem vieldiskutierten Arthouse-Hit (inklusive einer Golden-Globe-Nominierung für Tilda Swinton) landen konnte, ging das nächste Projekt von Lynne Ramsey („Ratcatcher“) aber mal so richtig in die Hose. Bis heute ist nicht abschließend geklärt, warum die Regisseurin am ersten Tag der Dreharbeiten zu dem Natalie-Portman-Western „Jane Got A Gun“ nicht am Set erschienen ist – auf jeden Fall verklagten sich Ramsey und ihr Produzent anschließend gegenseitig, während Ersatz-Regisseur Gavin O'Connor den Film erst künstlerisch an die Wand fuhr, bevor er dann auch an den Kinokassen einen katastrophalen Schiffbruch erlitt. Sowas kann für einen Filmemacher auch leicht mal das Karriereende bedeuten, aber Ramsey meldet sich nun schon zwei Jahre später wieder zurück – und zwar direkt im Wettbewerb von Cannes, wo sie mit „A Beautiful Day“ einen der reduziertesten und lässigsten Genre-Reißer seit langer Zeit präsentiert.
Der mit seiner Mutter (Judith Roberts) zusammenlebende Kriegsveteran und Ex-FBI-Agent Joe (Joaquin Phoenix) ist ein emotionales und psychisches Wrack – um nicht völlig den Verstand zu verlieren, zieht er sich regelmäßig Plastiktüten über den Kopf, bis er fast erstickt. Um all die schrecklichen Bilder aus seinem Kopf zu verdrängen (und nebenbei gutes Geld zu verdienen), lässt sich Joe von wohlhabenden Kunden anheuern, um deren verschleppte Kinder aus den Fängen von Sexhändlern zu retten - und den Verantwortlichen dabei wenn gewünscht anständig wehzutun. Als nächstes soll Joe die minderjährige Nina (Ekaterina Samsonov), die Tochter des gerade mitten im Wahlkampf steckenden Senators Votto (Alex Manette), aus einem Bordell in New York befreien. Mit seinen üblichen Werkzeugen, viel Panzertape und einem Hammer, macht er sich auf den Weg …
Der Actionheld, der nicht nur mit seinen äußeren Widersachern, sondern zugleich auch mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen hat, ist ein Archetyp (fast) so alt wie das Kino selbst. Aber Joe gibt dem Wort abgefuckt noch einmal eine ganz neue Dimension! Mit seinem ungepflegten Bart sieht er nicht nur aus wie ein Obdachloser (beziehungsweise wie Joaquin Phoenix in der Fake-Doku „I’m Still Here“), auch sein völlig vernarbter Körper und sein Plastiktüten-Fetisch sprechen eine deutliche Sprache: Dieser Mann hat schon so unglaublich viel Schreckliches gesehen und erlebt, dass er keinen Fliegenschiss mehr auf irgendetwas gibt - nur um seine pflegebedürftige Mutter kümmert er sich fürsorglich. Ramsey inszeniert Joe buchstäblich als Geist – wenn die Kamera ihn auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen lässt, dann löst er sich gleichsam in Luft auf, oder man sieht direkt nur noch, wie sich die Tür hinter ihm schließt. Nach einer ähnlich-mythischen Überhöhung strebt die Regisseurin später auch in einer Seebestattungsszene, in der sich Joe mitsamt der Leiche von Steinen in seiner Jackentasche runterziehen lässt und schließlich engelsgleich im Wasser schwebt. Todessehnsucht, Märtyrerikonografie, oder spielt sich das sowieso alles nur in Joes Kopf ab?
Zugleich kündet auch der fiebrig-misstönende Score von Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood immer wieder davon, dass sich der Wahnsinn hier jederzeit und dann vielleicht auch endgültig Bahn brechen könnte. Aber bevor es soweit kommt, hat Ramsey (das Drehbuch stammt ebenfalls von ihr) den Plot erst einmal so dermaßen radikal auf das absolut Nötigste heruntergebrochen, dass kaum noch mehr als ein nacktes Handlungsgerüst übriggeblieben ist. Schon die erste Mission im Bordell ist mit einer gerade angesichts der brisanten Thematik schwer verstörenden Nüchternheit in Szene gesetzt - Joe rennt nicht, er prügelt nicht, er haut einfach nur Leuten mit dem Hammer auf den Kopf. Wenig später deutet ein Fernsehbericht eine weitreichende Verschwörung an – aber während der geneigte Genre-Kenner schon ganz genau zu wissen meint, wo der korrupte Polithase langläuft, interessiert Ramsey das alles überhaupt nicht. Selbst wenn sich dann viel schneller als erwartet das „große“ Finale ankündigt und sich der „Taken“-Fan schon mal lustvoll die Hände reibt, bevor sich Joe da gleich durch die Bodyguard-Horden hämmert, bringt Ramsey den erwarteten Showdown stattdessen mit einem knappen Dutzend kurzer starrer Einstellungen hinter sich. Dabei ist der womöglich antiklimaktischste Bossfight der Filmgeschichte ähnlich rhythmisch-brillant geschnitten wie die legendäre Duschszene aus „Psycho“, die Joe noch zu Beginn des Films mit seiner Mutter nachgespielt hat. Alles ist vorbei, bevor es überhaupt so richtig angefangen hat. Nur der Wahnsinn, der bleibt.
Fazit: Ein thematisch nur schwer erträgliches und auch vor brutaler Gewalt nicht zurückschreckendes, zugleich aber auch völlig gechilltes und radikal reduziertes Thriller-Mood-Piece mit einem gleichermaßen zurückgenommenen und absolut dominierenden Joaquin Phoenix als Rachegeist – als hätte ausgerechnet Jim Jarmusch einen vierten Teil der „Taken“-Reihe inszeniert.
Wir haben „A Beautiful Day“ im Rahmen der 70. Filmfestspiele in Cannes 2017 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb unter dem Titel „You Were Never Really Here“ gezeigt wurde.