Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
4,0
stark
Rote Sterne überm Feld

Die dunklen Flecken der Vergangenheit

Von Michael Meyns

„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten“, sagte einst August Bebel, Mitbegründer der SPD. Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wurde dieses Zitat zu einer Art Leitfaden des deutschen Wesens. Kaum ein Land bildet sich so viel auf seinen Umgang mit der eigenen Vergangenheit ein wie wir Deutschen – nicht immer zurecht und gerne auch von einer gewissen Arroganz gegenüber solchen Völkern begleitet, die sich tatsächlich oder vermeintlich weniger mit den dunklen Flecken der eigenen Vergangenheit beschäftigen.

Welche blinden Flecken es in der eigenen Wahrnehmung trotzdem immer gibt und wie gegenwärtige Interessen die Interpretation der Vergangenheit beeinflussen, ist ein zentraler Aspekt von „Rote Sterne überm Feld“. In ihrem bemerkenswerten, beim Filmfestival Max Ophüls Preis mit dem Preis der Filmkritik ausgezeichneten Regiedebüt bringt Laura Laabs mit großer erzählerischer und inszenatorischer Experimentierfreude verschiedene Zeitebenen zu einem manchmal ausufernden und überladenen, aber auf immer spannende Weise ambitionierten Film zusammen.

Wahnsinnig ambitioniert und aufregend: In „Rote Sterne überm Feld“ werden fast 100 Jahre deutsche Geschichte zusammengeworfen! CarlosVasquez/Amerikafilm
Wahnsinnig ambitioniert und aufregend: In „Rote Sterne überm Feld“ werden fast 100 Jahre deutsche Geschichte zusammengeworfen!

Die Aktivistin Tine (Hannah Ehrlichmann) lässt über dem Reichstag rote Fahnen wehen. Gemeinsam mit einem Mitstreiter ist es ihr gelungen, im Zentrum der deutschen Politik ein Zeichen zu setzen – und nun muss sie vor der Staatsmacht fliehen. Sie fährt aufs Land, in die Provinz Mecklenburg-Vorpommers, nach Bad Kleinen. Dort wohnt ihr Vater Uwe (Hermann Beyer) in einem Häuschen und lässt das Leben an sich vorbeiziehen. Er hadert mit den Verwerfungen der Geschichte, die er im Lauf seiner Jahre miterleben musste, nicht zuletzt wegen des Verschwindens seiner Frau.

Nicht weit von seinem Haus entfernt wird kurz darauf ein verwestes Skelett gefunden, dessen Herkunft Rätsel aufgibt. Liegt die Leiche schon seit Jahrzehnten oder erst seit wenigen Jahren im Boden? Stammt sie aus den Zeiten der DDR oder vielleicht sogar aus dem Zweiten Weltkrieg? Oder vielleicht aus den 1990er Jahren, als im ehemaligen Zonenrandgebiet die Hoffnung auf die versprochenen blühenden Landschaften langsam versiegte und stattdessen ein anderes Ereignis für Schlagzeilen sorgte…

Besser zu viele als zu wenige Ambitionen

Es kommt nicht oft vor, dass man einem deutschen Film vorwerfen möchte, fast schon zu ambitioniert zu sein: Laura Laabs springt in den ausufernden 130 Minuten von „Rote Sterne überm Feld“ mit diversen unterschiedlichen Bildformaten durch die deutsche Geschichte, sie kontert agitatorische Szenen mit anarchischem Humor und variiert das liebste deutsche Genre, den Krimi. Nebenbei erzählt sie zudem noch vom Zweiten Weltkrieg, der neuen Rechten und der RAF. Das ist eine Menge und das findet auch nicht immer hundertprozentig schlüssig zusammen. Aber wenn man sich nicht mal in seinem Regiedebüt so richtig austoben kann, wann dann?

Kenner*innen der jüngeren deutschen Geschichte und vor allem dem Endspiel der Terrororganisation RAF werden beim Namen Bad Kleinen aufhorchen: Dort fand im Juni 1993 ein verunglückter Zugriff statt, bei dem die Polizei zwei Terroristen der sogenannten Dritten Generation verhaften wollten. Doch die Aktion ging schief, ein Polizist wurde erschossen und auch das RAF-Mitglied Wolfgang Grams kam ums Leben. Nach jahrelangen Untersuchungen offiziell durch Selbstmord, ein Urteil, das gerade von linker Seite angezweifelt wird – zumal es immer wieder Gerüchte gab, dass in Bad Kleinen noch eine dritte, unbekannte Person anwesend war.

Tine (Hannah Ehrlichmann) wird immer tiefer in das Mysterium um das geborgene Skelett hineingezogen. CarlosVasquez/Amerikafilm
Tine (Hannah Ehrlichmann) wird immer tiefer in das Mysterium um das geborgene Skelett hineingezogen.

Mit diesem Mythos – oder, je nach Sichtweise, Verschwörungstheorie – spielt Laura Laabs. Sie kreiert authentisch wirkende TV-Bilder, deren grobkörniges 4:3-Format einen schönen Kontrast zum extremen Scope-Format bildet, mit denen die Spielszenen aus den 90er Jahren inszeniert sind. Die meisten Szenen des Films spielen zwar in der Gegenwart, doch auch in die Zeit des Zweiten Weltkrieg geht es zurück, also in die deutsche Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, deren vor allem psychologische Folgen immer noch spürbar sind – natürlich in schwarz-weiß gefilmt. Vielleicht stammt das verweste Skelett, das fast wie ein MacGuffin funktioniert, also auf der einen Seite die Handlung antreibt, sich aber als nicht wirklich wichtig erweist, ja aus dieser Ära? Womöglich ist es aber auch die dritte RAF-Person oder sogar Tines verschwundene Mutter.

Immer weiter spinnt Laura Laabs das Geflecht aus Bezügen und Verweisen, erzählt vom Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung, der in der Hauptstadt Berlin noch mal eine ganz andere Dimension einzunehmen scheint. In der Provinz sieht man hingegen einmal „Unsere Dorfgemeinschaft: frei-sozial-national“ übergroß auf eine Scheune gemalt. Hier ist es fast selbstverständlich, dass die Körper der Männer mit Tattoos von Reichsadlern und Hakenkreuzen bedeckt sind und sie nur selten die Flasche Bier aus der Hand legen. Ein typischer, von Klischees geprägter Blick von außen, könnte man meinen. Doch Laura Laabs stammt selbst aus dem ehemaligen Osten, wurde kurz vor der Wende in Ost-Berlin geboren und blickt dadurch mit einer gewissen Skepsis, aber auch großer Sympathie auf die ostdeutsche Provinz und ihre Bewohner*innen. Deren Blick auf die deutsche Geschichte wurde durch den zusätzlichen Umbruch noch komplizierter, wie man in diesem mäandernden, verspielten, überbordenden Debütfilm eindrucksvoll erfahren kann.

Fazit: In ihrem Debütfilm „Rote Sterne überm Feld“ führt Laura Laabs einmal quer durch die deutsche Geschichte vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart, spielt mit Verweisen und Bezügen, Bildformaten und Genremustern, was zu einem zwar bisweilen ausufernden, aber stets ambitionierten und originellen Film führt, wie man ihn derart mutig und drängend im deutschen Kino gerne häufiger sehen würde.

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