Filmlisten gibt es wie Sand am Meer – und so sollte es auch sein! Denn so, wie einem Meer ohne Sandstrand etwas fehlt, ist eine Vielzahl an Rankings reizvoller als ein Filmdiskurs mit einem einzigen Granitblock zur Orientierung. (Oder so ähnlich.)
Wer sich ebenfalls mit mal mehr, mal weniger runden Gleichnissen auskennt, ist der Vatikan. Der hat sich anlässlich eines Jubiläums zudem ausführlich mit Filmen auseinandergesetzt: Der Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikationsmittel veröffentlichte 1995 eine Liste mit 45 sehenswerten Filmen. Und diese Liste enthält einige überraschende Einträge!
Ein Geburtstagsgeschenk vom Vatikan an das Medium Film
Stein des Anstoßes war das 100-jährige Jubiläum der ersten Filmvorführung durch die Gebrüder Lumière. Diesen Meilenstein feierte Papst Johannes Paul II., indem er die Filmkunst sowie die Filmindustrie als positiven Einfluss auf die Gesellschaft lobte. Um das Jubiläum über diese Worte hinaus zu begehen, ließ John Patrick Foley, der damalige vatikanische Kommunikationschef und Kurienkardinal, eine internationale Kommission einberufen.
Sie erhielt die Aufgabe, unter filmwissenschaftlichen Gesichtspunkten 45 bemerkenswerte Filme zu wählen: jeweils 15 Stück, die sich dem Thema Religion, Werten oder Kunst zuordnen lassen. Ungewöhnlich ist die Bescheidenheit, mit der die Liste präsentiert wurde. Bereits ihr offizieller italienischer Titel „Alcuni film importanti“ („Einige wichtige Filme“) suggeriert ein gemäßigtes Selbstverständnis.
Geht mir weg mit "Vertigo", "Citizen Kane" oder den besten Filmen aller Zeiten: Darum müssen All-Time-Listen persönlich seinDieser Eindruck wurde durch die erläuternden Kommentare des Päpstlichen Rats gefestigt: Er betonte explizit, dass die Auswahl keinen vollständigen, in Stein gemeißelten Kanon darstellt, sondern Filme existieren, die genauso sehenswert sind wie die Werke auf der Liste – man aber nicht jeden gelungenen Film auflisten konnte und selektieren musste. Eine hitzige Diskussion unter aufgebrachten Filmfans gewinnt der Vatikan so gewiss nicht – dabei enthält seine Auslese einige Titel, die sich in vielen Standard-Bestenlisten befinden!
Filmkunst macht es möglich: Der Vatikan empfiehlt die Lehre der Evolution
Ein solches Beispiel findet sich im Themenabschnitt Kunst: Stanley Kubricks Science-Fiction-Meisterwerk „2001: Odyssee im Weltraum“. Diese Wahl kommt durchaus überraschend, da Kubricks umjubelter Klassiker implizit zeigt, dass der Mensch vom Affen abstammt – und somit einen wissenschaftlichen Fakt anschneidet, gegen den sich manche Strenggläubige sträuben.
Aus demselben Grund überrascht auch die Inklusion eines Zeichentrick-Meisterwerks: „Fantasia“. Die Walt-Disney-Produktion, die sich der Verschmelzung klassischer Musik und atemberaubender Trickbilder verschreibt, enthält ein Kapitel, das zu den Klängen von Igor Strawinskis „Die Frühlingsweihe“ die Frühgeschichte der Erde schildert – inklusive der Evolution früher Einzeller hin zu Dinosauriern.
Diese Passage wurde während des Ur-Kinoeinsatzes des Films anno 1940 aus christlich-konservativen Kreisen scharf kritisiert. Deshalb darf man durchaus staunen, dass der Vatikan „Fantasia“ in die Kunst-Kategorie seines (Quasi-)Kanons aufnahm.
Die vollständige Kunst-Liste: Wo "Nosferatu" Schulter an Schulter mit Micky Maus steht
Die komplette vatikanische Aufzählung in der Kategorie Kunst umfasst neben dem Micky-Maus-Starvehikel „Fantasia“ und „2001: Odyssee im Weltraum“ F. W. Murnaus Horror-Meilenstein „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“, das gesellschaftskritische Science-Fiction-Meisterwerk „Metropolis“ von Fritz Lang sowie Abel Gances über 300 Minuten langes Historien-Epos „Napoléon“.
"Ich wusste, dass das nicht seine Rolle ist": Für dieses kontroverse Epos trennten sich die Wege von Martin Scorsese und Robert De NiroAußerdem umfasst die Kunst-Sparte George Cukors Familiendrama „Vier Schwestern“ (eine Adaption des Romanklassikers „Little Women“), Charlie Chaplins Komödien-Geniestreich „Moderne Zeiten“, der die Grenzen zwischen Stumm- und Tonfilm vermischt, sowie Orson Welles' „Citizen Kane“, ohne den kaum eine Kino-Bestenliste auskommt.
Ebenfalls empfiehlt der Vatikan das Kriegsdrama „Die große Illusion“ von Jean Renoir, das als als einer der größten französischen Filme aller Zeiten gilt, sowie John Fords aufreibenden Western „Ringo“ und die britische Diebstahlkomödie „Das Glück kam über Nacht“ von Charles Crichton.
Darüber hinaus enthält die Liste die durchaus auch anzügliche Momente umfassenden italienischen Meilensteine „La Strada – Das Lied der Straße“ und „Achteinhalb“ von Federico Fellini, Victor Flemings einflussreiches Musical „Der Zauberer von Oz“ und Luchino Viscontis prunkvolles Kostümfilm-Epos „Der Leopard“.
Die vollständige Werte-Liste: Kurosawa, Spielberg und Bergman
Auch in der Werte-Sparte der vatikanischen Filmliste sind einige Produktionen zu finden, die generell Ansehen genießen. So umfasst sie mit Vittorio De Sicas Neorealismus-Klassiker „Fahrraddiebe“, „Rom, offene Stadt“ von Roberto Rossellini sowie den Ingmar-Bergman-Regiearbeiten „Das siebente Siegel“ und „Wilde Erdbeeren“ mehrere Titel, die auch regelmäßig in Bestenlisten solcher Prestigepublikationen wie Sight & Sound vorkommen.
Auch Steven Spielbergs Holocaust-Drama „Schindlers Liste“ und Akira Kurosawas pessimistische Kultur-Parabel „Uzala, der Kirgise“ sind Stammgäste in Filmklassiker-Aufzählungen, genauso wie Frank Capras Weihnachts-Evergreen „Ist das Leben nicht schön?“ und Elia Kazans emotionsgeladenes Drama „Die Faust im Nacken“.
Und selbst wenn die Passion vieler Filmhistoriker*innen für D. W. Griffiths Bombast-Stummfilm „Intoleranz“ in den vergangenen Jahrzehnten nachgelassen hat: Der Film wird weiterhin für seinen Produktionsaufwand respektiert – und war Mitte der 1990er noch kein sonderlich überraschender Titel in solch einer Filmliste.
Ebenfalls geachtet, wenngleich nicht allzu häufig weit vorne in ewigen Filmbestenlisten vertreten, sind der vom Vatikan zur Weiterempfehlung gewählte Kriegsfilm „Die Harfe von Birma“ von Kon Ichikawa, Ermanno Olmis Armutsdrama „Der Holzschuhbaum“, der Sportfilm-Klassiker „Die Stunde des Siegers“ von Hugh Hudson, Richard Attenboroughs Biopic „Gandhi“ und der vielfach preisgekrönte Holocaust-Film „Auf Wiedersehen, Kinder“ von Louis Malle.
Darüber hinaus hat der Vatikan etwas gemogelt und eine zehnteilige Filmreihe in seine Liste aufgenommen. Aber immerhin handelt es sich dabei um eine der angesehensten Filmreihen aller Zeiten: Krzysztof Kieślowskis ursprünglich für das polnische Fernsehen produzierter „Dekalog“, der jedem der Zehn Gebote einen Film widmet.
Die vollständige Religion-Liste: Nicht nur Bibel-Verfilmungen!
Erwartungsgemäß gibt es in dieser Liste kein Vorbeikommen an Adaptionen biblischer Stoffe. Dieses Filmgenre wird durch das 44-minütige Kino-Frühwerk „La vie et la passion de Jésus Christ“ von Ferdinand Zecca und Lucien Nonguet sowie durch Pier Paolo Pasolinis „Das 1. Evangelium – Matthäus“ vertreten.
Darüber hinaus umfasst die Liste „Die Passion der Jungfrau von Orléans“ von Carl Theodor Dreyer ebenso wie sein nachdenkliches Meisterwerk „Das Wort“, Maurice Cloches „Monsieur Vincent“ über die Gründung der modernen Caritas, Rossellinis „Franziskus, der Gaukler Gottes“, die Satire „Nazarin“ des surrealistischen Vordenkers Luis Buñuel und das bildgewaltige Monumental-Abenteuer „Ben Hur“ von William Wyler.
Fortgeführt wird die Liste durch Fred Zinnemanns Historiendrama „Ein Mann zu jeder Jahreszeit“, Andreï Tarkovskys umjubeltes Mittelalter-Epos „Andrej Rubljow“ sowie sein bildgewaltig-spirituelles „Opfer“, und durch Roland Joffés Drama „Mission“. Abgerundet wird die Auswahl durch Liliana Cavanis „Franziskus“ mit Mickey Rourke als Franz von Assisi, „Thérèse“ von Alain Cavalier über die Heilige Therese von Lisieux und einen Klassiker des Gourmetkinos:
„Babettes Fest“ von Gabriel Axel, der mit einem der schönsten Festmahle der Kinogeschichte für Aufsehen sorgte und sich immense Popularität erarbeitete – auch weit über religiöse Kreise hinaus. Darüber, wie feierlich es wäre, die (über) 45 vom Vatikan herausgestellten Filme zu schauen, während man die Köstlichkeiten aus „Babettes Fest“ genießt, ist uns allerdings nichts bekannt.