Im humorvoll-sentimentalen Klassiker „Forest Gump“ von 1994 spaziert, nein, läuft Tom Hanks als begriffsstutziger, wohlmeinender Titelheld durch mehrere Jahrzehnte US-Historie und touchiert wichtige Wendepunkte. Um diesem Streifzug den letzten inszenatorischen Pfiff zu verleihen, nahm Regisseur Robert Zemeckis seinen Hauptdarsteller und packte ihn mit Hilfe damals revolutionärer Digitaltricks in reales Archivmaterial.
28 Jahre später gab Autor/Regisseur Andrew Legge in seinem Kino-Langfilmdebüt diesem Clou seinen eigenen Dreh – und bereicherte somit dem Kriegsfilm, dem Science-Fiction-Film und dem Found-Footage-Kino einen originellen Beitrag: „LOLA“ ist eine im Zweiten Weltkrieg spielende Zeitreisegeschichte, präsentiert als Found-Footage-Collage über Schwestern, die sich ins Polit-, Pop- und Kriegsgeschehen einmischen.
Dabei lässt Legge reale Archivaufnahmen und auf alt getrimmte Spielszenen zu einer soghaften Geschichte über Zusammenhalt, Kooperation und Widerstand verschmelzen. Falls ihr dies im Kino verpasst habt oder erneut sehen möchtet: „LOLA“ ist via Amazon Prime Video als VOD erhältlich.
"LOLA": Nur ein Blick in die Zukunft?
Die verwaisten Schwestern Thomasina (Emma Appleton) und Martha Hanbury (Stefanie Martini) wachsen weitestgehend isoliert in einem englischen Landhaus auf. Sie haben nur sich, ihre Obsession mit Filmkameras sowie ihre glühende Begeisterung für Musik. Thomasina entwickelt sich außerdem zu einer rastlosen Erfinderin. Mit einer Maschine namens LOLA gelingt es ihr gar, Radio- und Fernsehsignale aus der Zukunft abzufangen! Diese Fragmente aus kommenden Zeiten saugen die Schwestern begierig auf:
Sie richten ihren Style nach Zukunftsfundstücken und feiern die fremden Klänge, in die sich das Musikgeschehen noch entwickeln sollte. Auf Thomasina, die lieber auf den Namen Thom hört, übt insbesondere David Bowie gewaltige Faszination aus. Als LOLA Nachrichten aus der Zukunft empfängt, die einen erschütternden Verlauf des Zweiten Weltkriegs erahnen lassen, wird aus dem Spaß bitterer Ernst...
Gestern, morgen und heute kollidieren – die Hauptdarstellerinnen brillieren!
Regisseur/Autor Legge und Autorin Angeli Macfarlane erden ihr spitzes Konzept mit einer vielschichtigen, greifbaren Schwesterndynamik: Thom und Martha (alias „Mars“) sind komplexe, neugierige Persönlichkeiten, denen zwar anzumerken ist, dass sie in Abgeschiedenheit groß geworden sind. Aufgrund ihrer Wissbegierde haben sie sich aber ausreichend Einblick in menschliche Interaktionen angeeignet, dass sie zugänglich bleiben – wenngleich man sich primär über Themen wie Mode und Musik den Weg zu ihnen bahnen kann.
Hinzu kommt, dass Legge mit Appleton und Martini voll ins Schwarze getroffen hat: Die „LOLA“-Hauptdarstellerinnen haben einen so natürlichen Rapport, dass sie nicht bloß als Schwestern glaubhaft sind. Mit ihrem aus dem Alltag gegriffenen Kuddelmuddel aus Harmonie, Wettstreit, beidseitiger Fürsorge und gegenseitiger Kränkung verankern sie den gesamten Film in einer authentischen Gefühlswelt. Dadurch werden Thom und Mars zu so einnehmenden Perönlichkeiten, dass man selbst dann mitfiebert, wenn sie sich beim Gebrauch ihrer LOLA verheben...
Auf alt getrimmtes Filmmaterial über Schwestern, die Zukunftsvideos sehen
Legge vermischt nicht nur nachgebildete, echte und manipulierte Archivaufnahmen mit komplett neuem Material, sondern auch unterschiedliche Technologien: Die privaten Aufnahmen von Thom und Mars entstanden unter Gebrauch historischer Linsen mit althergebrachten 16mm-Kameras der Traditionsmarken Arriflex und Bolex.
Bei Sequenzen, die professionelle Aufnahmen imitieren, lassen Legge und Kamerafrau Oona Menges wiederum die Dekaden kollidieren: Sie griffen auf eine 35mm-Kamera der Londoner Marke Newman Sinclair zurück, wie sie die Figuren hätten benutzen können, packten allerdings den erst 1959 eingeführten Kodak-Film Double X hinein, der für die stimmungsvollen Bilder im folgenden Scorsese-Klassiker sorgte:
Heute Abend streamen: Dieses harte Boxer-Meisterwerk ist noch viel besser als "Rocky"Das mag historisch gemogelt sein, fügt sich aber auf der Meta-Ebene in das „LOLA“-Zeitenwirrwarr. Vor allem sorgt es für eine Ästhetik mit immenser Sogwirkung: Schrammeliges Material und anfangs chaotische Kameraführung, da die scheu anmutende, aber mit unermüdlicher Neugier filmende Mars den Umgang mit dem Gerät sukzessive erlernt, geht über in einen historisch akkuraten, geordneten 40er-Look sowie einen befremdlichen Clash der Ästhetiken.
Diese Wirkung wird akustisch unterstrichen: Legge bestückt „LOLA“ mit Bowies melancholischem Meisterwerk „Space Oddity“, geradlinigen und markigen Arrangements der Musik von Edward Elgar, verstörenden Stücken des „Wonka“-Komponisten Neil Hannon und einer Tatendrang und Lebensfreude weckenden Abwandlung des The-Kinks-Gassenhauers „You Really Got Me“.
LOLA und "LOLA" spiegeln sich
Gewiss: Legge und Macfarlane streifen konventionelle Genre-Erzählmuster. Es kommt zwischen den Schwestern zum Zwist, ob es bei ihrem Blutsbande-Duo bleiben soll. Es gibt Meinungsverschiedenheiten, ob es vorausschauender sei, LOLA geheim zu halten oder sie mit der Welt zu teilen. Und gute Absichten führen zu erschütternden Konsequenzen, die unsere Hauptfiguren glattzubügeln gedenken (da grüßt die „Zurück in die Zukunft“-Trilogie und somit ein weiteres Werk von „Forrest Gump“-Regisseur Zemeckis).
Aber: Allein schon die Form verhilft „LOLA“ zu einem Alleinstellungsmerkmal – zumal die Erzählweise sowie die damit einhergehende Bild- und Klangästhetik enormen Einfluss auf Stimmung und Wirkung des Films haben. So unmittelbar werden derartige Geschichten sonst nicht aufbereit, was dazu führt, dass „LOLA“ desorientierend gerät. Im wundervollen Sinne, so lange wir mittels fragmentarischer Aufnahmen mit diesen charismatischen Schwestern Zeit verbringen (und Zeiten erkunden). Beklemmend, sobald der Krieg auf sie zumarschiert, der Faschismus auf sie zurollt, und ihnen LOLA entgleitet.
In diesem Kontext erweist sich das (angesichts unzähliger didaktisch-verharmlosender Vergangenheitsbewältigungsdramen oft überreizt erscheinende) Setting als Schlüsselelement von „LOLA“: Legge erzählt in seinem stark verdichteten Film davon, wie erschreckend leicht es ist, vom Widerstand zum Opportunismus zu gleiten. Das verschränkt sich mit der Einsicht, dass bloßes Überleben freudlos ist, weshalb man für ein lebenswertes Leben voller Freiheiten einstehen muss, solange es möglich ist.
Ein zentraler Aspekt des Films ist konsequenterweise der Wert einer sich frei entfaltenden Kultur, die schöner und erfüllender ist, als alles, was bei der von Andersartigkeit und Diversität freigefilterten Alternative droht. Das macht „LOLA“ trotz einer bewusst altmodischen Aufmachung zu einem brandaktuellen Film, in dem sich Form und Inhalt spiegeln:
Die Maschine LOLA gestattet Thom und Mars Einblicke in die Zukunft, gibt Ansporn, wonach es zu streben lohnt, und Mahnungen, was ihnen droht, wenn sie vom Weg abkommen. Der Film „LOLA“ ist ein Zerrspiegel einer Vergangenheit, die droht, beängstigende Parallelen zur Gegenwart zu entwickeln. Er ist Mahnung, die richtigen Lektionen aus dem Gestern zu ziehen, sowie energischer Appell, für ein schönes Leben einzustehen, in dem man unbeschwert tanzen kann. (Vielleicht auch zu Melodien aus folgendem Heimkino-Tipp:)
Dieser Filmklassiker hat Geschichte geschrieben – jetzt erstrahlt er im Heimkino endlich auch in 4K*Bei den Links zum Angebot von Amazon handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diese Links oder beim Abschluss eines Abos erhalten wir eine Provision. Auf den Preis hat das keinerlei Auswirkung.