Wer ins Disneyland Paris fährt, rechnet damit, ikonische Figuren zu Gesicht bekommen – sei es in Fleisch und Blut respektive knuddeligem Flauschfell, oder schlicht als Dekoration. Wenn man Micky Maus, Goofy und Donald Duck nicht umarmt, abklatscht und um ein Autogramm bittet, so bestaunt man sie in Form von Malereien, Schaufensterdekos und als Fotogelegenheit dienenden Statuen!
Derweil würde kaum wer damit rechnen, auf dem Disney-Gelände unter ein monumentales Bild von Clint Eastwood als Mann ohne Namen aus Sergio Leones „Dollar“-Trilogie zu spazieren. Diese Erfahrung bleibt Disneyland-Paris-Besucher*innen auch seit nunmehr 14 Jahren vorenthalten, da der Westernheld anno 2010 durch ein Motiv aus dem Pixar-Blockbuster „Cars“ ersetzt wurde. Aber was suchte ein Szenenbild aus einem nicht ganz jugendfreien, rauen Italo-Western überhaupt in Disneys europäischem Freizeitresort?
Erst im simulierten Autokino geparkt, dann in einen Mythos spaziert
Die massive Clint-Eastwood-Leinwand wachte von 1992 bis 2010 über den vorderen Bereich des Parkplatzes am Hotel Santa Fe. Dabei handelt es sich um das preisgünstigste Disney-Hotel im Disneyland Paris – und von den sechs in Fußweite der Disney-Themenparks gelegenen ist es zudem das abschüssigste.
Das bedeutet aber auch, dass im Santa Fe übernachtende Disneyland-Paris-Besucher*innen, die sich zu Fuß vom Hotel bis zu einem der Parks schlagen, die vollständige architektonische Erfahrung machen – wer dagegen an einem der anderen fünf Hotels startet, erlebt nur einen Teil der Geschichte. Dabei ist diese für das geneigte, sich auf die Atmosphäre einlassende, Freizeitparkpublikum durchaus signifikant:
In seinem ursprünglichen Zustand zollte das Hotel Santa Fe der Vorstellung des mystischen, leergefegten und sonnengegerbten New Mexico Tribut (wenn man gezielt nach den Überbleibseln des alten Themas Ausschau hält, gilt dies in reduzierter Form heute noch). Folgt man dem Rio Grande getauften Fluss hinter dem Hotel, kommt man daraufhin erst zum als (Film-)Westernstadt aufgemachten Hotel Cheyenne, danach zur an Gebäude im Yellowstone National Park angelehnten Sequoia Lodge, dann zum Newport Bay Club im archetypischen Stil New Englands und letztlich zur Art-Deco-Interpretation des Big Apple in Form des Hotel New York.
Von dort aus sind es etwa fünf Gehminuten bis zum Disneyland Hotel direkt am Einpark des Disneyland Parks, das in einem disneyfizierten Stil großer US-Hotels gehalten ist, wie sie während der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstanden. Diese Hotels waren wiederum vom Viktorianischen Baustil inspiriert, der im Vereinten Königreich geprägt wurde.
Um zum Rio Grande zu gelangen, muss man aber erst einmal das Santa-Fe-Hotelgelände durchqueren, auf dem es eine klare Trennlinie gibt: Die große Leinwand, von der einst Clint Eastwood auf das Publikum herabblickte. Vor der Leinwand ist der Hotel-Santa-Fe-Parkplatz eine vollkommen banale Betonwüste. Hinter ihr wartete dagegen einst die überhöhte Darstellung New Mexikos als melancholischer Ort voller Rätsel.
Man wechselt(e) also von einer Nachstellung eines Autokinos hinein in eine filmische Welt – damals wie heute, wenngleich der „Film“, hinter dem Autokino-Parkplatz früher eine abstrakte Idee war und heute „Cars“. Aber so oder so reist man daraufhin durch weitere filmisch überspitzte Darstellungen der USA, bevor das Disneyland Hotel Amerika und Europa verschmelzen lässt und als Übergang in den Disneyland Park dient – also eine noch stärker filmisch geprägte, stilisierte Welt innerhalb dieser Welt, in der Geschichten und Mythen beider Kontinente kollidieren.
Ein Hauch von Sergio Leone und Wim Wenders – und das in einem Disney-Hotel
Die einst beabsichtigte Autokino-Assoziation lässt sich heute noch im Vorderbereich des Hotel Santa Fe erkennen, auch wenn sich das neue, riesige „Cars“-Motiv am Eingang des überarbeiteten, mit „Cars“-Ikonografie übersäten Hotels ganz leicht als einfach nur das missverstehen lässt: Ein großes „Cars“-Bild am Eingang zum „Cars“-Hotel.
Zwischen den zahlreichen „Cars“-Grafikelementen im renovierten Hotel lässt sich die bis 2010 bewahrte, ursprüngliche Vision des Architekten Antoine Predock hingegen nur noch erahnen: Der 2024 verstorbene, vielfach preisgekrönte Architekt wollte mit dem Hotel Santa Fe das Gefühl erwecken, man wäre in der US-amerikanischen Wüste gelandet und bahne sich unter der prallen Sonne schleichend, aber stetig seinen Weg.
Predock unterteilte das Hotel in fünf Pfade, die jeweils ein Thema symbolisieren: Ein Pfad war der endlosen Weite gewidmet, die amerikanische Schnellstraßen vermitteln. Ein anderer Pfad stand für die Bedeutsamkeit des Wassers, repräsentiert durch einen kleinen Bach, der durch die steinig gestaltete Landschaft plätschert, sowie durch trockene Flussbetten, rostig anmutende Wassersprinkler und eine Wasser-Installation.
Ein weiterer Pfad behandelte kuriose Artefakte, wie man sie auf US-Road-Trips entdeckt – etwa liegen gebliebene, rostige Autos, kitschige Statuen oder auch ein Kaktus in einem Glaskäfig. Außerdem imitierte Predock an einem anderen Pfad auf postmoderne Weise die Ikonografie von Monument Valley, zum Beispiel durch Betonbauten, die an die markanten Felsformationen des Drehorts solcher Filme wie „Spiel mir das Lied vom Tod“ und „Der Schwarze Falke“ erinnern. Oder auch durch eine Leuchtreklame, die einem Wegekuckuck nachempfunden ist – dem flinken Vogel, der ebenso als (von den Warner-Trickstudios unsterblich gemachter) Roadrunner bekannt ist.
Zu guter Letzt bestand der „Pfad der Legenden“ aus Gebäuden, die mit goldenem und silbernem Anstrich aus dem sonstigen Farbschema des Hotels herausstechen und als Mahnmal an die Goldgräberzeit dienten, einer vagen Nachbildung eines Western-Gefängnisses, einem Vulkan, einem Haus, das aus einem bestimmten Winkel an einen Cowboyhut erinnern sollte, und ähnlichen, postmodernen Anspielungen auf Western-Ikonografie. Predocks Vision war eine etwas entrückte, intellektuelle Auseinandersetzung mit dem New-Mexiko-Thema – insofern überrascht es, dass sie immerhin 18 Jahre lang überstanden hat.
„Ich wollte eine Vision des Westens ausdrücken, die mich tagtäglich begleitet – ich wollte ein Gelände der Vorstellungskraft“, wird er von Designing Disney zitiert. „Ich fand, dass das Projekt einem Wim-Wenders-Film gleichen sollte, 'Paris, Texas', statt die Niedlichkeit und Nostalgie Santa Fes auszudrücken.“ Die Vorstellungskraft der Besucher*innen wollte Predock anfänglich noch direkter fordern: Ihm schwebte vor, über dem Eingang des Hotels eine leere Leinwand zu errichten.
Erst auf Wunsch des damaligen Disney-CEO Michael Eisner rückte Predock davon ab und wählte ein Filmmotiv. Auch wenn Eastwoods Mann ohne Namen nicht dieselbe Melancholie ausdrückt wie etwa der Protagonist von „Paris, Texas“, pickte Predock eine mythologisch aufgeladene, raue Ikone heraus, die sich mit allen Facetten der ursprünglichen Hotel-Santa-Fe-Vision vereinen ließ.
Und, Ehre wem Ehre gebührt: Michael Eisner nickte Predocks Plan B ab. Die folgende ikonische Eastwood-Rolle hätte es dagegen wahrscheinlich nie auf die Santa-Fe-Leinwand geschafft:
"Ich hatte keine Angst davor": So verteidigt Clint Eastwood seine kontroverseste Rolle