Ende der 1970er bis Anfang der 1980er machten die Disney-Realfilmstudios eine Identitätskrise durch: Die Filmlandschaft hatte sich gewandelt, in der Disney-Führungsriege klammerte man sich zu lang an Erfolgsrezepte aus den 1950ern und 1960ern. Daher musste eine Neuorientierung her – aber die Studiomanager waren sich uneinig, wie sie auszusehen hat. Dadurch entstand ein kleines Zeitfenster, in dem Disney wild experimentierte.
Die meisten dieser Versuche sind heutzutage nur eingefleischten Disney-Fans geläufig, die wahlweise über sie verwirrt den Kopf schütteln oder sie mit diebischer Freude hochleben lassen. Einer der ambitioniertesten Filme dieser außergewöhnlichen Disney-Schaffensphase kämpft sich aber aus dem Tal der Obskurität hinaus: Der herbstlich-spröde, schaurig-atmosphärische Horrorfilm (!) „Schreie der Verlorenen“ mit Bette Davis, Carroll Baker und Kyle Richards.
Mit Grusel um ein verlorenes Publikum buhlen
Die Entstehungsgeschichte von „Schreie der Verlorenen“ ist so faszinierend und komplex, dass man ein ganzes Buch mit ihr füllen könnte. Daher sei an dieser Stelle nur die Kurzfassung geliefert: Weil die Disney-Studios drastisch an Marktstellung in Hollywood verloren, setzte sich Disney-Produzent Ron Miller (der zudem der Schwiegersohn des verstorbenen Firmengründers Walt Disney war) für eine neue Strategie ein.
Sein Gedanke: Wenn es dem Studio im neuen US-Kinoalltag nahezu unmöglich wurde, mit einem einzelnen Film alle Publikumsschichten zu erreichen, muss man halt einzelne Gruppen gezielt ansprechen. Da kam Miller eine Idee des Produzenten Tom Leetch gerade recht: Dieser wollte, dass Disney seinen eigenen „Der Exorzist“ bekommt und pitchte daher eine Adaption des Romans „A Watcher In The Woods“ von Florence Engel Randall.
Dieses Kino-Meisterwerk platzt fast vor Cameos: Für die Auftritte DIESER Film-Ikonen musste sich Steven Spielberg ziemlich ins Zeug legenMiller war vom Roman angetan, letztlich wurden seine finstersten Passagen jedoch abgeschwächt, weil einzelne Stimmen im Studio sich nicht derart drastisch vom Disney-Image entfernen wollten. Trotzdem entstand mit „Schreie der Verlorenen“ ein ungewöhnlicher Horrorfilm mit einer Atmosphäre zwischen herbstlich-melancholisch und unterschwellig-garstig.
Er feierte 1980 seine Weltpremiere, wurde aber bald darauf zurückgezogen und 1981 mit neuem Prolog und komplett überarbeitetem Ende erneut veröffentlicht. Die Marketingkampagne des mittlerweile von Miller geführten Konzerns richtete sich sogar gezielt an Erwachsene und spielte damit, dass Disney mit diesem Spannungsfilm eine neue Ära eröffnet. Der erhoffte Erfolg blieb aus – auch wenn sich „Schreie der Verlorenen“ im Heimkino als schwarzes Schaf im Disney-Kanon eine kleine Kult-Fangemeinde aufgebaut hat.
Ein sprechender Teddybär entwickelt eine Obsession mit Disneys Horror-Ausflug
Zu den Fans von „Schreie der Verlorenen“ scheinen „Family Guy“-Schöpfer Seth MacFarlane und „Modern Family“-Autor Jon Pollack zu gehören. Denn in der 2024 gestarteten Comedyserie „Ted“, die als Prequel zur gleichnamigen Hitkomödie mit Mark Wahlberg dient, zollen sie dem vergessenen Disney-Kleinod Tribut:
In der von Pollack verfassten und von MacFarlane inszenierten Halloween-Episode der ersten „Ted“-Staffel schauen sich die Hauptfiguren (Teenager John und sein sprechender, fluchender Teddybär Ted) „Schreie der Verlorenen“ auf Videokassette an. Zuerst machen sie sich über die Filmempfehlung lustig, die sie von Johns Cousine Blaire erhalten haben: Es sei doch völlig unmöglich, dass ein Disney-Film ihnen Angst einjagt!
Aber es dauert nicht lang, bis sie wie gebannt vor dem Fernseher sitzen und bei punktgenau platzierten Schreckmomenten schockiert aufspringen. Für den Rest der Episode wird es zum Running Gag zwischen den Figuren, eine bestimmte Szene aus „Schreie der Verlorenen“ als Streich nachzuspielen und somit ihr Gegenüber zu verängstigen.
Ein 5-Sterne-Meisterwerk verneigt sich vor einem Ultra-Geheimtipp
Ein weiterer „Schreie der Verlorenen“-Fan ist Regisseur und Drehbuchautor Andrew Haigh, der sein Faible für das Disney-Kleinod in seinem von FILMSTARTS mit der Höchstwertung ausgezeichneten Drama „All Of Us Strangers“ ausgelebt hat. Nicht nur, dass sich die von Andrew Scott verkörperte Hauptfigur in einer Szene den 80er-Gruselfilm anschaut:
Wie Haigh im Podcast „Movies That Made Me“ verraten hat, sind einige Einstellungen in seinem beklemmend-berührenden Drama an „Schreie der Verlorenen“ angelehnt – teils bewusst, teils unterbewusst. Haigh stimmt im Podcast zwar der Einordnung zu, dass „Schreie der Verlorenen“ einer dieser Filme ist, die einem erwachsen-kritischen Blick weniger standhalten als einer unbefangenen Kinderperspektive.
Clash der Filmwelten: Der Sci-Fi-Meilenstein "Blade Runner" hat sich bei einem ikonischen Horror-Klassiker bedientTrotzdem lobt er ihn als Produktion mit faszinierend-sonderbarem Tonfall und effektiv-schaurigen Momenten. Und da Haigh als Kind ein Faible für Filme hatte, die „in einer traurigen Wirklichkeit verwurzelt sind“, sog er ihn in jungen Jahren geradezu auf. Damit ist Haigh nicht alleine:
Wie Haigh ebenfalls ausplaudert, kennt „Hot Fuzz“-Regisseur Edgar Wright „Schreie der Verlorenen“ in- und auswendig. Deshalb erkannte Wright sogar flüchtige Augenblicke in „All Of Us Strangers“ als inszenatorische Einfälle, in denen Haigh sich an der Disney-Obskurität orientiert. Wright selbst ist dieses Vorgehen laut Haigh nicht fremd: Wie ihm Wright offenbarte, schauten sich der „Shaun Of The Dead“-Regisseur und „Oldboy“-Kameramann Chung-Hoon Chung „Schreie der Verlorenen“ zusammen an, um sich auf ihr gemeinsames Projekt „Last Night In Soho“ vorzubereiten.
„Schreie der Verlorenen“, „Last Night In Soho“ und „All Of Us Strangers“ eint eine geisterhafte Erzählung, in der Vergangenheit und Gegenwart eine unberechenbare, teils tröstliche, teils beängstigende Bindung eingehen – und sie alle enthalten prägnante Spiegelszenen. Dieses Spiegelmotiv sei laut Haigh der Hauptgrund, weshalb Edgar Wright und Chung-hoon Chung „Schreie der Verlorenen“ sozusagen studiert haben:
Vereinzelten Schwächen zum Trotz ist die von John Hough („Kesse Mary – Irrer Larry“) inszenierte und von Alan Hume („Octopussy“) gefilmte Disney-Produktion ein Ausnahmewerk, wenn es um ausgefallene visuelle Spielereien mit Reflexionen geht. Mit genau denen wollte sich Wright bei „Last Night In Soho“ messen lassen. Die „Schreie der Verlorenen“ mögen also nicht sonderlich vielen Filmfans geläufig sein – trotzdem hallen sie noch heute nach. Hoffentlich auch eines Tages bei Disney+ in Deutschland.