Wenn jemand in einer Diskussion über das Kino anführt, dass ein guter Film doch vor allem Spaß machen, unterhalten, eine gute Geschichte haben, einen überraschen, einen berühren oder sonst irgendetwas „müsse“, dann erwidere ich eigentlich jedes Mal dasselbe: Ich liebe das Kino ja gerade deshalb so über alle Maßen, weil ein Film erst mal überhaupt gar nichts „muss“!
Nun wurden meine Vorstellungen davon, was für mich persönlich wohl einen „guten Film“ ausmacht und welchen „Regeln“ das Kino am besten folgen sollte, selten so radikal und wiederholt pulverisiert wie in den vergangenen zwölf Monaten. Und genau deshalb empfand ich das Kinojahr 2019 als so aufregend wie schon lange keins mehr…
Meine besten Filme 2019 – Platz 1: "La Flor"
Nicht nur mein Kinoerlebnis des Jahres, sondern mein Kinoerlebnis des Jahrzehnts: Die Mitglieder des argentinischen Filmemacherkollektivs El Pampero Cine haben zehn Jahre lang an dem Mammutprojekt „La Flor“ gearbeitet, bis unter der Regie von Mariano Llinás nicht weniger als ein in jeder Hinsicht revolutionärer Film dabei herausgekommen ist, wie man ihn tatsächlich noch nie gesehen hat:
Dieselben vier Schauspielerinnen spielen verschiedene Rollen in den insgesamt sechs Teilen des Films – was als Horrorfilm um eine verfluchte Mumie beginnt, macht einen sechsstündigen Abstecher in die Historie des Spionagefilms, nur um dann in Richtung einer von David Lynch inszenierten „Harry Potter“-Hommage abzubiegen.
Die 14,5 Stunden (!) von „La Flor“ wirken so, als hätten sich die Macher alle etablierten Zutaten aus 120 Jahren Filmgeschichte genommen, um in ihrer brodelnden, dampfenden Hexenküche die Idee vom Kino noch einmal völlig neu zusammenzubrauen – und in meinen Augen ist ihnen das auch gelungen!
PS: Ich habe den Film, so wie von den Machern vorgesehen, in drei Teilen an drei aufeinanderfolgenden Tagen auf dem Filmfest München gesehen. Mein Kino-Tagebuch, das ich nach jeder Vorstellung über diese Erfahrung geschrieben habe, könnt ihr euch hier durchlesen:
Wir gucken den 14,5 Stunden langen Kinofilm "La Flor" (aktueller Stand: nach 887 Minuten geschafft)Meine besten Filme 2019 – Platz 2: "Wintermärchen"
Es ist zwar keine offizielle Verfilmung der NSU-Morde, aber man merkt trotzdem sofort, worauf Jan Bonny mit seinem „Wintermärchen“ abzielt, wenn er die drei ständig rumfickenden und Ausländer ermordenden Protagonisten als ultimativ-triebgesteuert entblößt. Keine trockene Anklage, sondern ein grausam-hässlicher Film, der den Zuschauer vor den Kopf stößt wie eine Abrissbirne.
Kein Kinobesuch im vergangenen Jahr war mir unangenehmer (und trotzdem war nur einer besser). „Wintermärchen“ entfesselt die gesamte Kraft des Kinos – und rammt sie dem Zuschauer ungebremst in die Weichteile. Ein Film wie eine grauenvoll entstellte Fratze – und für mich zugleich ein 5-Sterne-Meisterwerk!
Meine besten Filme 2019 – Platz 3: "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen"
Der erste Film, der in diesem Jahr in einer offiziellen FILMSTARTS-Kritik die vollen 5 Sterne bekommen hat – und genau diese Wertung hätte ich ihm auch verpasst!
"Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen"In den vergangenen Jahren habe ich ohnehin eine ziemliche Faszination für Hybrid-Filme entwickelt, in denen mit den Grenzen zwischen dem Dokumentarischen und dem Fiktiven ganz bewusst gearbeitet wird – und Radu Judes zu gleichen Teilen leichtfüßige und bittere Bestandsaufnahme des heutigen Rumäniens (und eigentlich auch des heutigen Europas) ist für mich bisher der Höhepunkt in diesem Genre:
Die junge Theaterregisseurin Mariana Marin (gespielt von Ioana Iacob) soll ein Historisches Reenactment über den Sieg der Rumänen gegen die grausamen Nazi-Invasoren inszenieren. Ein Heldenstück, das sie zugleich aber auch noch um eine Episode anreichern will, in dem die Beteiligung der Rumänen am Holocaust thematisiert werden soll – ein rotes Tuch für ihre Geldgeber und Vorgesetzten. Selten hat mir etwas im Kino so sehr Angst gemacht wie die finale Aufführung und noch mehr die unerwartete, aber dann doch vorhersehbare Reaktionen der jubelnden Massen.
Die weiteren Platzierungen
Platz 4: „Ich war zuhause, aber…“
Platz 5: „The Irishman“
Platz 6: „The Favourite - Intrigen und Irrsinn“
Platz 7: „Burning“
Platz 8: „Ralph reichts 2: Chaos im Netz“
Platz 9: „Beach Bum“
Platz 10: „Porträt einer jungen Frau in Flammen“
Die besten Filme ohne Kinostart
„Dragged Across Concrete“ (S. Craig Zahler, USA 2018)
„Olanda“ (Bernd Schoch, Deutschland/Rumänien 2019)
„Mektoub My Love: Intermezzo“ (Abdellatif Kechiche, Frankreich 2019)