Vor ein paar Jahren noch hätte ich mir gar nicht vorstellen können, in nur zwölf Monaten weit über 100 Mal ins Kino zu gehen. Ist doch absurd! Heute bekomme ich schon fast Entzugserscheinungen, wenn sich eine Woche lang kein Vorhang für mich öffnet, mir für ein paar Tage kein Popcorngeruch in die Nase steigt oder ich auf dem Nachhauseweg nach meinem letzten Kinobesuch nicht schon den nächsten planen kann. Und ich liebe es.
Denn im Kinojahr 2019 wurden meine kühnsten Vorstellungen davon, was Kino überhaupt ist, nicht nur übertroffen, sondern vor allem auch auf den Kopf gestellt. Gerade die ersten sechs Filme in meiner Bestenliste haben mich auf so unterschiedliche Art und Weise überrascht, berührt, schockiert und vor allem begeistert, dass ich die ersten Plätze genauso gut auch hätte auswürfeln können. Denn sie alle haben meinen Horizont als Kinofan so sehr erweitert, wie es vorher nur wenigen Filmen gelang.
Meine besten Filme 2019 – Platz 1: "Burning"
Ich habe eine Stunde nach dem Kinobesuch gebraucht – genauer gesagt den Weg vom Kino bis nach Hause – um zu verstehen, was Regisseur Lee Chang-Dong mit seinem Film überhaupt von mir wollte. Es war eine völlig neue Erfahrung für mich (Lynch-Filme mal ausgenommen), einen Mystery-Thriller zu sehen, der nicht nur eine von rätselhaften Umständen angetriebene Geschichte erzählt, sondern selbst auch das größte Rätsel von allen bleibt.
Natürlich habe ich erwartet, Antworten zu bekommen. Antworten auf all die Fragen, die die Geschichte um Jong-soo, seine verschwundene alte Schulfreundin Hae-mi und deren Reisebekanntschaft Ben aufwirft – und dabei habe ich fast verpasst, was für ein paradoxes Kunststück Lee Chang-Dong stattdessen vollbracht hat: Wo einen „Burning“ im ersten Augenblick noch völlig ratlos zurücklässt, öffnet er einem zugleich sperrangelweit die Augen, sobald man ihn durchschaut hat. Unbedingt ein zweites, drittes und viertes Mal schauen!
Heimkino-Tipp: Das Mediabook* von „Burning“ enthält nicht nur den Film auf DVD, Blu-ray und in 4K, sondern außerdem auch Lee Chang-Dongs ebenso großatigen, bislang in Deutschland unveröffentlichten „Peppermint Candy“.
Meine besten Filme 2019 – Platz 2: "Once Upon A Time In Hollywood"
Auch wenn ich die Filme von Quentin Tarantino schon immer zu schätzen wusste, zählte ich mich lange nicht zu seinen eingefleischten Fans. Tatsächlich kann ich mit einigen seiner Filme bis heute nur wenig anfangen. Und dass es vielen auch mit „Once Upon A Time In Hollywood“ so geht, kann ich nur zu gut nachvollziehen. Dass ich den Film aber ganz besonders ins Herz geschlossen habe und gleich sechs Mal dafür ins Kino ging (das Blu-ray Steelbook* ist vorbestellt!), habe ich letztlich einer glücklichen Fügung zu verdanken. Es hat einfach gepasst.
Denn ich hatte vor dem Kinostart die nötige Zeit, um mich eingehend auf den Film einzustellen, mir unzählige verschollene Perlen und Klassiker anzusehen, die Tarantino in seinem Werk referenziert, und mich mit den gescheiterten Stars auseinanderzusetzen, die auf ihren großen Durchbruch in der Traumfabrik ebenso vergeblich warteten wie Rick Dalton (Leonardo DiCaprio). Mit diesem Vorwissen im Gepäck – und wohl wirklich vor allem deswegen – hat mich „Once Upon A Time In Hollywood“ gelehrt, was es heißt, Kino nicht nur zu sehen, sondern wahrlich zu genießen. Ein durch und durch perfekter Film, in dem jedes noch so kleine Detail im Hintergrund, jede Kameraeinstellung und jeder Song sowieso seinen ganz bestimmten Zweck erfüllt. Ein Überlänge-Film mit einer Story, die auf einen Bierdeckel passt – und der trotzdem in jeder Sekunde so unfassbar unterhaltsam ist. Ich weiß nicht, wie Tarantino es gemacht hat… aber ich danke ihm dafür.
Meine besten Filme 2019 – Platz 3: "Systemsprenger"
„Schere niemals alle über einen Kamm“ – das gilt meiner Ansicht nach nicht nur für Menschen, sondern auch für Filme. Ich muss schon eine Extremerfahrung wie „Systemsprenger“ (oder „Victoria“ vor ein paar Jahren) machen, um mir einzugestehen, wie dumm ich in jungen Jahren war, als ich deutsche Filme quasi aus Prinzip verteufelt habe. Und heute stelle ich fest: Noch nie in meinem Leben hat mich ein Film so mitgenommen, mich psychisch und physisch derart unter Strom gestellt und mich so lange nach dem Abspann beschäftigt, wie nun Nora Fingscheidts schonungsloses Debüt.
Warum mir der Film den Boden unter den Füßen wegriss, ist schnell erklärt: Denn lange vor meiner Zeit als FILMSTARTS-Redakteur habe ich als Sozialpädagoge Erfahrungen gemacht, die sich mit den Ereignissen im Film bis in die kleinsten Details decken – als hätte Fingscheidt mir damals höchstpersönlich bei der Arbeit über die Schulter geschaut. Deswegen bin ich auch nicht nur dankbar für einen emotionalen, elektrisierenden und erschreckend authentischen Film, sondern vor allem für die Achtung für Sozialarbeiter und Pädagogen, Mütter und Väter, und natürlich Kinder, die in jeder Szene über der herzzerreißenden Ohnmacht eines Systems steht, das nun mal nicht perfekt ist und nie perfekt sein kann – und das ganz ohne erhobenem Zeigefinger.
Die weiteren Platzierungen:
Platz 4: „La Flor“
Platz 5: „Parasite”
Platz 6: „One Cut Of The Dead“
Platz 7: „Mid90s“
Platz 8: „The Farewell“
Platz 9: „Apollo 11“
Platz 10: „Green Book“
Die besten Filme ohne Kinostart
„Dolemite Is My Name“ (Craig Brewer, USA 2019)
„Deerskin“ (Quentin Dupieux, Frankreich 2019)
„Klaus“ (Sergio Pablos, Spanien/Großbritannien 2019)
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