Als ich 2021 „Das Mädchen und die Spinne“ gesehen habe, hat mein Körper irgendwann nur noch gezittert. Dabei geht es doch eigentlich „nur“ um die letzten paar Erledigungen vor der Auflösung einer WG. Aber die Filme der aus der Schweiz stammenden und in Berlin lebenden Zwillinge Ramon Zürcher und Silvan Zürcher sind eben wie Dampfkocher, bei denen sich die Intensität nur immer weiter anstaut, ohne dass man unbedingt auf die erlösende Explosion hoffen darf. „Das Mädchen und die Spinne“ ist deshalb mein persönlicher Lieblingsfilm der vergangenen 25 Jahre.
In dieser Woche ist nun der Abschluss der nur thematisch, aber nicht inhaltlich zusammenhängenden Tier-Trilogie in den deutschen Kinos gestartet – und in „Der Spatz im Kamin“ wird zum ersten Mal der Deckel des Dampfkochers angehoben: Nach dem nachmittäglichen Elternbesuch in „Das merkwürdige Kätzchen“ und der WG-Auflösung in „Das Mädchen und die Spinne“ geht es diesmal um ein zweieinhalbtägiges Familientreffen – und dort brechen die Konflikte mit einer Wucht hervor, dass das Treiben immer wieder auch ins augenzwinkernd Groteske oder sogar regelrecht Horrorhafte abgleitet.
Das geht so weit, bis irgendwann der Hund vor der Waschmaschine sitzt, und dabei zuschaut, wie die vom Sohn hineingesteckte Katze darin herumwirbelt – und trotzdem bewahren sich Regisseur Ramon Zürcher und Produzent Silvan Zürcher ihre unglaubliche Präzision, mit der sie ihr Ensemble wie Schachfiguren durch die Räume schieben. Und immer wenn die Figuren glauben, sie haben doch mal einen Moment zum Durchatmen, dann steht doch plötzlich wieder jemand im Türrahmen und hält den Familienterror-Reigen am Laufen. Wir haben die Zürcher-Brüder im Rahmen des Filmfest Hamburg zum persönlichen Gespräch getroffen (bei dem aus den geplanten 20 Minuten dann doch schnell eine gute Stunde wurde):
FILMSTARTS: Werdet ihr seit „Das merkwürdige Kätzchen“ und „Das Mädchen und die Spinne“ seltener oder häufiger zu Familienfesten und Geburtstagen im Freundeskreis eingeladen?
Silvan Zürcher: Ich glaube, es ist ziemlich gleichgeblieben.
FILMSTARTS: Es hat also niemand Angst davor, dass er in eurem nächsten Film landet, wenn mal etwas schiefläuft?
Silvan Zürcher: Nein, bisher nicht [lacht]. Sämtliche Figuren sind fiktionalisiert und haben kein konkretes Vorbild aus unserem Umfeld. Unsere Eltern zum Beispiel haben den Film inzwischen bereits fünf Mal gesehen.
FILMSTARTS: Das könnte bei einigen Figuren aus euren Filmen auch böse ausgehen, wenn da rauskommt, dass es ein reales Vorbild gibt. Ich würde mich auch nicht trauen zu fragen. Aber bei den Charakteren und ihren Zusammenstößen ist es ja tatsächlich nicht leicht zu erraten, wie ihr da jetzt wieder draufgekommen seid: Zum einen fühlen sie sich so spezifisch an, dass man wetten würde, ihr hättet etwas überspitzt, das ihr irgendwo tatsächlich selbst erlebt oder beobachtet habt. Auf der anderen Seite haben die Konflikte in ihrer Inszenierung aber auch etwas Mechanisches, wie in einem Horrorfilm, so präzise und auf den Punkt, wie es inszeniert ist …
Ramon Zürcher: Der ganze Film ist sehr persönlich, eine Ansammlung aus Beobachtungen, Gedanken, Gefühlen. Das Ganze ist aber, wie du sagst, überspitzt, verdichtet und nicht autobiographisch, sondern eben ein Konzentrat. Ich finde das Bild des Mechanischen oder Automatisierten treffend, wie ein Uhrwerk. Wenn wir uns gemeinsam mit unserem Kameramann Bilder ausdenken, dann mögen wir es, wenn die Kamera etwas Schweres hat, wie ein Automat, der gar nicht so leicht bewegt werden kann. Und auch die Choreografien in den engen Innenräumen sind wie ein Getriebe, bei dem alle Zahnräder ineinandergreifen. Es läuft mechanisch ab, fühlt sich aber trotzdem lebendig an.
Silvan Zürcher: Der Beginn des Prozesses ist intuitiv-poetisch, da sammeln wir erst mal. Erst dann kommt die strengere, analytischere Seite hinzu – und man fängt an, die Leitmotive herauszuschälen und Parallelen zu entdecken. Da gibt es tatsächlich zwei Pole, die unsere Arbeiten prägen.
FILMSTARTS: Apropos Zahnräder, die ineinandergreifen müssen: Habt ihr das Haus aus „Der Spatz im Kamin“ im Studio nachgebaut oder gibt es das tatsächlich?
Ramon Zürcher: Bei „Das Mädchen und die Stimme“ haben wir die Wohnungen noch in einem Studio gebaut, aber danach hat uns die Sehnsucht gepackt, wieder „on location“ zu drehen, auch wegen der Atmosphäre, der Patina. Wir haben das Haus zwischen Bern und Biel gefunden, es dann aber noch im Charakter verändert. Die Tapete stammt zum Beispiel von uns, auch die Raumaufteilung haben wir angepasst – so ist die Küche aus dem Film eigentlich das Wohnzimmer, und das Badezimmer die Küche.
FILMSTARTS: Man kann sich auch schwer vorstellen, dass ihr eure Drehbücher schreibt, ohne schon eine ziemlich genaue Vorstellung zu haben, wie der Drehort dann aussieht …
Ramon Zürcher: Beim Schreiben des Drehbuchs hatte ich tatsächlich einen Idealgrundriss im Kopf. Dann haben wir die Location gesucht, die dem am nächsten kommt, und die auch nicht zu stark saniert ist, sondern bereits eine Patina hatte, durch die dem Haus eine gewisse Vergangenheit eingeschrieben war. Sobald wir das Haus gefunden haben, folgte ein Prozess, das Drehbuch dieser konkreten Location neu anzupassen. Ich musste Szenen umschreiben, etwa weil ein Raum nicht wie geplant zwei Ausgänge hatte, sondern nur einen. Zum Teil hat sich also das Haus dem Drehbuch angepasst, zum Teil das Drehbuch dem Haus.
Silvan Zürcher: In der Küche wird ja zum Beispiel auch das Fenster beinahe bespielt wie eine Tür, immer wieder steigt dort jemand rein oder raus. Das haben wir so nicht geschrieben, eigentlich sollte es zwei Türen geben, aber das haben wir dann an die realen Umstände angepasst, weil es wichtig war, dass es dort einen direkten Zugang zum Garten gibt. Eine solche Offenheit muss sein, wenn man den filmischen Raum nicht komplett in einem Studio künstlich erschafft, sondern ein Originalmotiv in der Realität sucht.
FILMSTARTS: Es gibt ja wohl auch keine Filmemacher auf der Welt, in deren Werken Türrahmen eine so wichtige Rolle spielen wie bei euch …
Ramon Zürcher: Das kann schon sein, ja [lacht].
Silvan Zürcher: Oder überhaupt die Architektur des Wohnraums zu nutzen, um Figuren voneinander zu trennen und dann wieder zusammenzuführen. Genau das macht ja ein soziales Miteinander aus, und wir nutzen Türen und Räume, um es zu orchestrieren und strukturieren.
FILMSTARTS: Ich würde mir mittlerweile zutrauen, innerhalb von fünf Minuten zu erkennen, ob ein Film von euch ist oder nicht. Aber wie ist das eigentlich mit solchen Markenzeichen wie den mitten in einer Szene im Vordergrund vorbeihuschenden Figuren oder der Pointe, dass am Ende eines Dialogs plötzlich jemand im Türrahmen steht und lauscht. Setzt man das ab einem gewissen Punkt bewusst ein, weil man das jetzt als seinen persönlichen Stil ausgemacht hat? Oder wie kommen solche Dinge zustande?
Ramon Zürcher: Vor dem Regiestudium in Berlin habe ich schon Bildende Kunst in Bern studiert – und dort war es so, dass alle Studierenden unterschiedlichste Vorlieben und Tendenzen hatten beim Malen zum Beispiel. Während der eine dieses Glas hier auf dem Tisch ganz naturalistisch abmalen würde, würde der andere die Farbigkeit und die Konturen verändert abbilden, würde das Glas sozusagen subjektiviert abbilden, also den eigenen Blick auf das Glas im Gemälde mit abbilden. Es war schon immer so, dass mich nicht das Glas an sich interessiert hat, sondern der individuelle Blick auf das Glas.
Deswegen war mir z.B. der Expressionismus oder der Surrealismus viel näher als naturalistische Darstellungen, die ich langweilig fand. Daneben kommt eine Vorliebe zur Reduktion, wie man sie in den Filmen von Angela Schanelec findet. Als ich damals nach Berlin kam, kannte ich sowas im deutschsprachigen Kino noch gar nicht – bis ich dann im Kino Arsenal „Plätze in Städten“ gesehen habe. Ich war vollkommen fasziniert, dass gerade in dieser Strenge so viel Leben zum Vorschein kommt. Auch beim Schauen der Filme von Èric Rohmer und Robert Bresson kommen die Dinge für mich auf eine Art ins Vibrieren, dass sie sich regelrecht in die Hirn- und Gefühlsrinde einbrennen. Und so entsteht dann am Ende halt ein gewisser Typ von Film mit einem spezifischen Stil.
FILMSTARTS: Wie ist es am Ende überhaupt zu einer Tier-Trilogie gekommen, war das von Anfang an der Plan?
Silvan Zürcher: Während der Auswertungsphase von „Das merkwürdige Kätzchen“, als wir auf Festivals gereist sind, haben wir begonnen, nächste Stoffe zu schreiben, die wir erst separat voneinander entwickelt haben. Aber als wir uns diese dann gegenseitig vorgestellt haben, mussten wir feststellen, dass es bestimmte Parallelen gibt, thematische wie auch formale. Und dann kam der spielerische Gedanken auf, dass das so wie eine Familie sein könnte. Und von der Zahl her waren es ja eben drei, da war man also schon bei der Trilogie. Von da an haben wir das Material gezielt in die Richtung hin entwickelt.
Ramon Zürcher: Insgesamt hatten wir Lust, den Radius von Film zu Film zu erweitern. So spielt das Kätzchen an einem Tag in einer Wohnung, die Spinne an zwei Tagen in zwei Wohnkomplexen, und der Spatz nun an etwas mehr als 2 Tagen in einem prächtigen Landhaus. Auch erzählerisch wollten wir von Film zu Film mehr wagen und weitergehen. So ist der erste Film eher Kammerspiel, der zweite eine Ballade und „Der Spatz im Kamin“ nun wie eine pompösere Oper.
FILMSTARTS: Für mich hat es sich so angefühlt, als ob die Konflikte in „Das merkwürdige Kätzchen“ schwelen, in „Das Mädchen und die Spinne“ brodeln und nun in „Der Spatz im Kamin“ endgültig hervorbrechen …
Ramon Zürcher: Ja, das war auch eine Idee, wie die Konflikte in den einzelnen Filmen designt werden. Deckelt man sie wie in einem Dampfkochtopf wie in „Das merkwürdige Kätzchen“, oder werden sie explizit ausartikuliert wie jetzt im neuen Film.
FILMSTARTS: Hat es denn schon beim Schreiben Spaß gemacht, die Katze nicht einfach nur in die Waschmaschine zu stecken, sondern dann auch noch den Hund als Beobachter davor zu platzieren?
Ramon Zürcher: Ja, schon. Aber es hat auch irgendwie perfekt in diesen Reigen der psychischen und physischen Gewalttaten gepasst, dass sich dort dann auch die Katze und der Hund mit einreihen. Da streift man die Zwangsjacke ab, wagt sich auch mal ins absurde Komische, ins Trashige oder ins B-Movie-Hafte. Das hat schon etwas sehr Befreiendes, auch weil ich glaube, dass ich schon immer daran interessiert war, Bilder wie aus einem klassischen Horrorfilm einem Art-House-Film zu vermengen.
FILMSTARTS: In „Der Spatz im Kamin“ kommen auch wieder einige besonders abgründige Anekdoten über verschiedene Tierarten vor. Habt ihr dafür extra Wikipedia durchforstet? Oder wo habt ihr die alle her?
Silvan Zürcher: Es ist nicht so, dass wir wie Jäger mit unserem Netz losziehen, um etwas einzufangen. Wir bewegen uns eher sammelnd durch die Welt und dann kommen sie von selbst zu einem. Wir haben beide Notizhefte, um die Juwelen des Alltags festzuhalten. Das sind kleine Beobachtungen oder Dinge, die uns erzählt werden. Und bei den Tier-Anekdoten war das genauso.
Ramon Zürcher: Die Geschichte mit den Glühwürmchen hab ich zum Beispiel mal in einem Warteraum in einem Geo-Heftchen gelesen und fand sie irgendwie cool. Die Überschrift lautete in etwa: „Glühwürmchen, die kleinen Monster!“ Von der Seescheide habe ich in einem Sachbuch gelesen und fand es toll, dass sie, sobald sie einen Ort mit den passenden Lebensbedingungen gefunden hat, einfach ihr eigenes Gehirn auffrisst.
„Der Spatz im Kamin“ läuft seit dem 10. Oktober in den deutschen Kinos. Die offizielle FILMSTARTS-Kritik von unserem Autoren Patrick Fey könnt ihr hier nachlesen.