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    Der Spatz im Kamin
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der Spatz im Kamin

    Das heißerwartete Finale der Tier-Trilogie!

    Von Patrick Fey

    Es ist bereits gut die Hälfte von Ramon Zürchers „Der Spatz im Kamin“ vorüber, als mit Christina (Paula Schindler) eine neue Figur die Bühne betritt. Sie stößt als letzte zur erweiterten Familie hinzu, die sich im vererbten Familienanwesen eingefunden hat, vermeintlich, um den Geburtstag ihres Vaters Markus (Andreas Döhler) zu feiern. Es dauert nicht lang — für uns Zuschauende vergehen kaum drei Minuten — da hat Christina schon wieder Reißaus genommen und flieht, sich der Gründe ihres Fernbleibens erinnernd, vor der Unterredung mit Mutter Karen (Maren Eggert) Richtung Badezimmer. Im Haus ihrer verstorbenen Großmutter gibt es keine Schlüssel, und so greift sie rasch nach einem Stuhl, klemmt diesen unter die Türklinke und setzt sich mit Kopfhörern auf den Ohren aufs Klo. Lange wird sie dem Treiben der Familie auf diese Weise nicht entkommen können, doch für den Moment ist es verlockend, so zu tun als ob.

    Im Zentrum dieser Familie – oder zumindest im Zentrum des Blickes, den Ramon Zürcher auf sein Ensemble wirft – steht Karen, die nach dem Tod ihrer Mutter in jenes Haus ihrer Kindheit zurückzog, in dem sie und ihre Schwester Jule (Britta Hammelstein) im Mädchenalter unter ständigen Drangsalierungen zu leiden hatten. Als die Familie zu Beginn des Films auf der Türschwelle des Hauses auftaucht, zeigen sich die Schwestern von dieser Zusammenkunft weder besonders beseelt, noch treten offene Feindseligkeiten zutage. Ramon Zürcher versteht, dass Familie oft weder das eine noch das andere ist; dass die Intimität, die Familie zwangsläufig mit sich bringt, auch unter den besten Voraussetzungen immer eine Kaskade von kleineren und größeren Zumutungen bedeutet.

    Vieles dreht sich in „Der Spatz im Kamin“ um Karen (Maren Eggert), die nach dem Tod ihrer Mutter in das Haus ihrer Kindheit zurückgezogen ist. Salzgeber
    Vieles dreht sich in „Der Spatz im Kamin“ um Karen (Maren Eggert), die nach dem Tod ihrer Mutter in das Haus ihrer Kindheit zurückgezogen ist.

    Wer bei dieser Prämisse hellhörig wird, tut dies aus guten Gründen, erinnert diese Konstellation doch an den ersten Teil der sogenannten „Tier-Trilogie“, die 2013 auf der Berlinale mit der losen Kafka-Adaption „Das merkwürdige Kätzchen“ ihren Lauf nahm. Mit diesem Debüt, in dem ebenfalls eine Familienzusammenkunft und die sie umkreisenden unterschwelligen Konflikte im Zentrum der Geschichte stehen, begann die steile Karriere des Schweizer Brudergespanns. Der grandiose Mittelteil „Das Mädchen und die Spinne“ katapultierte Ramon und seinen Produzenten-Zwilling Silvan Zürcher 2021 in noch höhere Sphären der internationalen Festivalkino-Öffentlichkeit katapultierte. Das ging bis hinein in die Top 10 der Cahiers du Cinéma 2021 sowie auf Platz 1 der Lieblingsfilme der letzten 2o Jahre von FILMSTARTS-Chefredakteur Christoph Petersen.

    Obwohl „Der Spatz im Kamin“ thematisch nun zur Prämisse ihres Debütfilms zurückkehrt, so schwelen die Konflikte nun weniger, als dass sie offen zutage treten. Ganz, als wäre der immer ein wenig zu Grausamkeit tendierende Ramon zum Schluss gelangt, dass Gewalt besonders dann einschneidend ist, wenn sie unbedacht und beiläufig daherkommt. Formal gibt es indes genügend Anhaltspunkte, die uns schnell daran erinnern, dass wir es hier mit einem Zürcher-Film zu tun haben. Die Figuren sind in eine starre Welt gefallen und müssen sich innerhalb des Raumes arrangieren, der ihnen zufällt. Die zumeist statische Kamera begreift die Mise-en-scène wortwörtlich als Bildausschnitt, was zur Folge hat, dass unsere Vorstellungskraft permanent dazu angehalten wird, den dargestellten Raum vor unserem geistigen Auge auszudehnen. Stimmen und Geräusche setzen ein oder sich fort, bevor und nachdem die Figuren das Sichtfeld betreten. Die erhöhte Schnittfrequenz trägt zusätzlich zur Dynamisierung der für sich regungslosen Bilder bei.

    Jedes bisschen Bewegungsfreiheit ein Kampf

    Gespiegelt wird dies im Figurenpersonal, das sich angesichts der drohenden Erstarrung um jede Regung bemüht. Ganz wortwörtlich vorm Erstarren steht Johanna (Lea Zoe Voss), die älteste Tochter Karens, der sich aufgrund einer Erkrankung zunehmend die Gelenke versteifen. Doch im Gegensatz zu Karen, die noch immer im Schatten ihrer eigenen verstorbenen Mutter lebt, nimmt Johanna die eigene Situation an: „Solange ich mich noch bewegen kann, bewege ich mich doppelt, dreifach. Damit ich mich immer daran erinnern kann, wie es war, frei zu sein“, erzählt sie gegen Ende des Filmes ihrer kleinen Cousine, die kaum zehn Jahre sein dürfte. Wie für die Zürcher-Brüder üblich gerät diese Szene weder schwermütig noch rührselig. Stattdessen hat die junge Cousine ein Lächeln auf dem Gesicht, während sie Johanna zuhört.

    Doch was sich schnell grausam ausnähme, stellt sich hier viel mehr als aufrichtige Darstellung der unbekümmerten Neugier eines Kindes dar. Das familiäre Rollenspielen wurde von Johanna zwar nicht ad acta gelegt, doch scheint sie sich weniger als die meisten an die ungeschriebenen Gesetze gebunden zu fühlen, weshalb sie sich hier so freimütig mit der jungen Cousine zeigt. Wohl auch aus diesem Grund sind es Johanna und ihre Tante Jule, die noch am besten gegen die zahlreichen Schläge gewappnet sind, die über kurz oder lang jedes Familienmitglied einstecken muss.

    Karens Ehemann Markus (Andreas Döhler) mit der jungen Brandstifterin Liv (Luise Heyer) an. Salzgeber
    Karens Ehemann Markus (Andreas Döhler) mit der jungen Brandstifterin Liv (Luise Heyer) an.

    Die Gewalt, die den Filmen der Zürcher-Brüder innewohnt, speist sich dabei nicht immer nur aus den Worten, die ihre Figuren mit- oder übereinander verlieren. Angesichts der kammerspielartigen Beschränkung des Schauplatzes und des Handlungszeitraumes auf nicht mehr als zwei Tage verengt sich die Szenerie ungemein, was zufolge hat, dass die Figuren, noch dazu ohne Zimmerschlüssel, einander kaum aus dem Weg gehen können. Permanent schwingt so die Angst mit, beobachtet und für jemanden gehalten oder bei etwas ertappt zu werden. So sieht Johanna etwa, wie Karen ein Auge auf ihren Schwager Jurek (Milian Zerzawi) wirft, während Karens jüngster Sohn Leon (Ilja Bultmann) seine Schwester Johanna über den Korridor hinweg dabei beobachtet, wie diese mit ihrem Onkel flirtet.

    Während weniger ambitionierte Filme vermutlich dramaturgisches Kapital aus diesen Situationen schlagen würde, reihen sich diese Szenen hier lediglich, bleiben ohne Konsequenzen und formen schließlich ein soziales Geflecht der Unsicherheit. Zwar bemüht sich Karen darum, bestimmte Themen — etwa das Sexualleben ihrer toten Mutter oder deren Todesumstände — zu umschiffen. Doch mit heranwachsenden Töchtern, die schon jetzt eine größere emotionalere Reife als sie selbst entwickelt haben, lässt sich weder den auftretenden Fragen noch den gefürchteten Antworten ein Riegel vorschieben.

    Die Hoffnung auf einen Brandstifter

    Da heißt es dann an einer Stelle, als eine dicke Ratte sich auf einem ihrer regelmäßigen Besuche auf der Fensterbank des Küchenfensters vorbeischaut, Ratten würden nach der Stillzeit vergessen, wer ihre Mutter ist. Anders als die Ratten vergessen wir Menschen diesen Umstand jedoch nicht, was ganz eigene Probleme mit sich bringt. So besonders zu sehen an Karen, die – im Gegensatz zu ihren Töchtern, welche früh begannen, sich dem Wirkungskreis der eigenen Mutter zu entziehen – auf verbitterte Weise an der Vergangenheit festhält. Und damit auch am elterlichen Haus, das ihre Schwester, ohne mit der Wimper zu zucken, verkauft hätte.

    Je weiter der Film fortschreitet, desto mehr entwickelt sich dieses Spannungsverhältnis zu einer Emanzipationsgeschichte, oder zumindest zur Vision davon, wie eine Befreiung aus dem jetzigen Leben zu erreichen wäre. Wie sonst wäre es zu verstehen, dass Karen die junge Frau Liv (Luise Heyer) regelmäßig ins Haus einlädt, um den Hund auszuführen. Liv, die, wie wir später erfahren, eine ganze Zeit in der Psychiatrie verbracht hat, nachdem sie das Haus ihres Mannes angezündet hatte. Vielleicht, ja nur vielleicht, wäre es ja nicht das Schlechteste, wenn dieses Haus dereinst auch in Flammen aufgehen würde.

    Fazit: Mit „Der Spatz im Kamin“ führt Ramon Zürcher seine Tier-Trilogie auf formaler wie motivischer Ebene zu einem gelungenen Abschluss. Statt Figuren stellt Zürcher das familiäre Miteinander samt seiner alltäglichen Grausamkeiten und emotionalen Zumutungen ins Zentrum der Geschichte und skizziert eine, wenngleich nur in der Ferne wabernde, Möglichkeit des Ausbruchs.

    Wir haben „Der Spatz im Kamin“ im Rahmen des Locarno Filmfestivals 2024 gesehen.

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