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    Ein Berlin-Meisterwerk mit einem planlosen Tom Schilling und ganz viel Zigaretten - jetzt auf Netflix streamen
    Patrick Kittler
    Patrick Kittler
    Hasst wahrscheinlich einen deiner Lieblingsfilme, empfiehlt dir aber im Gegenzug ein Haufen Meisterwerke.

    Wo sind eigentlich die guten deutschen Tragikomödien? Und noch eklatanter: Wo sind die guten deutschen Jugendfilme? Unser Autor Patrick Kittler hat für euch einen Film rausgekramt, der beide unterrepräsentierte Genres kongenial miteinander vereint.

    Die Geschichte von „Oh Boy“ ist schnell umrissen: Zwei Jahre schon plätschert das Leben von Hauptfigur Niko – gespielt vom grandiosen Tom Schilling in seiner Paraderolle – ziellos dahin. Sein erfolgreicher Juristen-Vater überweist ihm jeden Monat 1000 Euro. Er glaubt, Niko würde sie für das Jura-Studium aufwenden, das er aber schon längst abgebrochen hat.

    Was genau Nikos Problem ist, wird nie wirklich deutlich. Planlos lebt er in den Tag hinein und wird von seinem Umfeld mehr durch den Tag geschliffen, als dass er selbst Entscheidungen treffen würde. Die tieferliegenden Ursachen für diese Lethargie lassen sich höchstens durch die komödiantisch herrlichen und trotzdem tragischen Begegnungen mit anderen Figuren erahnen, die wie er, in ihrer eigenen Welt gefangen zu sein scheinen.

    Das Großstadtportrait, bestehend aus lauter einsamen, verwirrten Existenzen kann aktuell auf Netflix gestreamt werden.

    "Oh Boy": Ein toller deutscher Jugendfilm!

    Was „Oh Boy“ so erfrischend anachronistisch wirken lässt, ist seine aufrichtige Liebe und einfühlsame Zärtlichkeit für das Jugendalter – in diesem Fall für die Adoleszenzphase. Denn wo sind sie denn, die großen deutschen Jugendfilme, über die wir alle reden? Während im amerikanischen Kino der Coming-of-Age Film ein festes und anerkanntes Genre ist (siehe den Oscar-Gewinn von Barry Jenkins‘ Meisterwerk „Moonlight“ im Jahr 2016), strotzt das deutsche Gegenwartskino nur so vor reaktionären Boomer-Filmen – lange Zeit natürlich angeführt von Til Schweiger.

    Der letzte Jugendfilm beziehungsweise die letzte Jugendfilmreihe, die hierzulande große Massen erreichte, waren wohl oder übel die „Fack ju Göhte“-Filme – eine Reihe, die bei allem Klamauk doch für mich von einer ungeheuren Verachtung für die aktuelle, junge Generation geprägt ist.

    „Faul“, „vulgär“, „ungebildet“, „dekadent“, „minderbemittelt“, „asozial“ sind noch die freundlichsten Attribute für junge Menschen, die man aus diesen Filmen herausdestillieren kann. Jedoch sind diese filmischen Fiaskos weniger Urheber dieser Ressentiments als vielmehr Spiegel eines generellen gesellschaftlichen Hasses auf junge Menschen und ihre Nöte, wovon die Bildungs- und Sozialpolitik der letzten Jahrzehnte und die Corona-Bildungspolitik nur formvollendete Symptome sind.

    Die filmische Antithese

    „Oh Boy“ hingegen greift entgegen dieser Realität die Krise eines jungen Menschen mit so viel Würde auf - und das ohne diesen als unschuldiges Opfer seiner Umstände zu entmündigen.

    Denn was nagt hier an allen und besonders an Niko? Ist es die Leere der Postmoderne, in der alle großen Narrative schon von vorgestern und die barbarische nationale Geschichte nur noch ein nebulöser Rauch in der kollektiven Erinnerung darstellt? Ist es die Rigidität der bürgerlichen Gesellschaft, mit ihren Vorstellungen eines gelungenen und strukturierten Lebens, in der jeder Weg schon vorgezeichnet und totgetrampelt scheint, wie der, den sein Vater für ihn als Juristen vorgesehen hat? Oder ist man, wie er selbst im Film an einer Stelle konstatiert, „vielleicht selbst das Problem?“

    Szene aus X-Verleih
    Szene aus "Oh Boy": Tom Schilling trifft Michael Gwisdek.

    Diese und viele weitere Fragen wirft der Film beim Sehen auf, aber – und das ist das Wunderbare – das alles geschieht nicht auf prätentiöse oder didaktische Weise, sondern ganz leichtfüßig und beiläufig. Selbst ohne diese großen Fragen beantworten zu wollen, sind es schon die wunderschöne Schwarz-Weiß-Ästhetik, das zauberhafte Schauspiel-Ensemble, der wunderschön-melancholische Jazz-Soundtrack und die ungeheuer präzise beobachteten humoresken Episoden, von denen wirklich jede einzelne bravourös ist, die den Film sehenswert machen.

    Wenige Filme schaffen es, Gefühle zu erwecken. Noch weniger gelingt es, ein Lebensgefühl konzise auf den Punkt zu bringen. Gerster gelingt mit seinem Hochschulabschlussfilm somit das Größtmögliche: Eine universelle Abhandlung, über die Irrungen und Verwirrungen des jungen Erwachsenenalters, die schmerzhafte Suche nach der eigenen Stimme, nach einem Sinn in einer überfordernden Welt und der tragischen Unfähigkeit sich mit sich selbst zu konfrontieren, mit denen sich jeder auf seine Weise identifizieren werden kann.

    Kultfilm wurde nach mehr als 15 Jahren fortgesetzt – das grandiose Original könnt ihr auf Netflix streamen
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