Zwei ungleiche Frauen, die mit Tragödien ringen und durchs Klavierspiel geeint werden. Umringt von der Tristesse eines Frauengefängnisses, sowie von Kultureinrichtungen, die mal noch trister sind, andere Male überwältigend prachtvoll: Das wirkt glatt wie die Prämisse eines deutschen Berlinale-Beitrags, der vom Feuilleton zelebriert wird, dann aber ungerechtfertigt untergeht. Doch genau das ist „Vier Minuten“ nicht.
Stattdessen stieg das mitreißende Drama, in dem eine brennende Liebe zur Musik lodert, auf ungewöhnlichem Weg zum Kulthit auf. Derzeit könnt ihr „Vier Minuten“ bei Netflix abrufen.
Das lohnt sich nicht nur, weil das von Chris Kraus inszenierte Drama mit „Babylon Berlin“-Star Hannah Herzsprung und der viel zu früh verstorbenen Monica Bleibtreu eine raue-emotionale Erfahrung ist. Sondern auch, weil nun „15 Jahre“ im Kino läuft – die lang erwartete Fortsetzung des Kulthits.
"Vier Minuten": Ein Geheimtipp, der nachhallt
Seit Jahrzehnten gibt die kompromisslose Traude Krüger (Monica Bleibtreu) in einem Frauengefängnis Klavierunterricht. Als sie eines Tages die des Mordes verurteilte, 20-jährige Jenny (Hannah Herzsprung) kennenlernt, hellt sich Traudes Alltag auf: Die junge, potentiell selbstzerstörerische Frau ist eindeutig musikalisch hochbegabt! Traude will ihr Talent fördern sowie fordern – und unterrichtet Jenny unter einer Bedingung:
Sie muss zusagen, am Wettbewerb „Jugend musiziert“ teilzunehmen. So kommt es zu einer tumultartigen, passionierten Abfolge aus Harmonie und Zwist, während sich Jenny und Traude mit ihren seelischen Narben auseinandersetzen und neue Perspektiven auf die Musik entdecken. Zudem muss Jenny lernen, Nähe und Verletzlichkeit zuzulassen. Denn im Wettbewerb muss sie allein durch Klänge ausdrücken, was ihr Wesen ausmacht...
"Gladiator 2" kommt ohne die Musik von Hans Zimmer aus – bietet aber die beste Alternative„Vier Minuten“ war bereits 2005 abgedreht, die reguläre deutsche Kinoauswertung fand jedoch erst 2007 statt. Dazwischen legte das schroff-schöne Drama einen steinigen Weg hin: Bei der Berlinale 2006 wurde es als Beitrag abgelehnt (ebenso wie „Das Leben der Anderen“, der danach den Oscar gewinnen sollte), auch seitens der Filmverleiher hagelte es zunächst Absagen.
Erst, nachdem „Vier Minuten“ beim Internationalen Filmfestival in Shanghai von Jury-Präsident Luc Besson bejubelt und mit dem Hauptpreis ausgezeichnet wurde, drehte sich der Wind. Trotzdem wurden dem Film in Deutschland weniger Leinwände freigeräumt als beispielsweise in unserem Nachbarland Frankreich – und so musste sich „Vier Minuten“ seine hiesige Fangemeinde mühselig erkämpfen. Was dem Film letztlich so erfolgreich gelang, um nun eine Fortsetzung zu rechtfertigen – ein waschechter Kulthit im klassischen Sinne!
"Whiplash" trifft "Systemsprenger"
Dass sich „Vier Minuten“ allem zum Trotz nach vorne kämpfen konnte, überrascht nicht. Denn das Drama über tief vergrabenen Kummer, schlecht verarbeiteten Frust und den Versuch, mit Musik ein emotionales Gleichgewicht herzustellen oder wenigstens vorzutäuschen, hallt nach. Das liegt einerseits an den Hauptdarstellerinnen:
Ihnen gelingt es, ihre Figuren markant, geradezu überhöht anzulegen – und dennoch Tiefe zu verleihen. Herzsprungs keifende, selbstzerstörerische Jenny tritt zunächst als Archetyp einer burschikosen Wutbombe auf, Bleibtreu derweil wirkt so, als spiele sie eine stocksteif-preußische Gouvernante.
Doch sukzessive zeigen sich Nuancen im Wesen der Figuren, die nicht an ihrer Strahlkraft rütteln, und sie dennoch glaubhafter, aufwühlender skizzieren. Jenny könnte fast das sein, was postpubertär aus Helena Zengels „Systemsprenger“-Figur wird, ein Vulkan aus Kummer, orientierungslosem Zorn und Ärger darüber, keinen Halt zu finden.
Sci-Fi-Dystopie im Jahr 2024: Diesen vergessenen Endzeit-Kultfilm solltet ihr spätestens jetzt nachholenTraude indes wird durch Rückblenden, die gelegentlich scharf am Pathos vorbei segeln, zu einer tragisch verhärmten Figur, deren Disziplin sich als Selbstschutzmechanismus offenbart. Und beide Figuren erarbeiten sich im wechselhaften Rhythmus Unverständnis, Mitgefühl und Erschütterung – ähnlich, wie Kraus' Regieführung und Uta Schmidts Filmschnitt dem Stoff durch Tempowechsel eine raue Dynamik verleihen.
Sie spielen nicht mit derart abrupten Pausen und Beschleunigungen wie Damien Chazelle in seinem Musikdrama „Whiplash“, wo ein impulsiver Mentor auf einen sich im sinnbildlichen Tunnel befindlichen Schüler trifft. Doch eine Verwandtschaft besteht, als wären diese Filme sich ergänzende Puzzleteile: In „Whiplash“ wollen zwei Kerle drastische Akkuratesse in den freien Jazz prügeln, und übertönen so die Leere in ihren Leben. „Vier Minuten“ handelt davon, die Klassik um Spontaneität und Feuer zu bereichern, um ein Ventil für vergrabene, brodelnde Gefühle zu finden.
Konsequenterweise sind es Jennys rebellische Tastaturquälereien, die die Glanzmomente des Films darstellen. Von einer schroff-dramatischen Orgelperformance, die einem Davy Jones gefallen würde, bis hin zum Gänsehautfinale, für das Komponistin Annette Focks eine ausdrucksstarke, ebenso soghafte wie exzentrische Nummer geschrieben hat. Die Zugabe gibt es jetzt im Kino.
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