Ein monumentales Meisterwerk von nahezu unendlicher Schönheit
Von Christoph PetersenEs wäre spannend, direkt nach der Kinovorstellung eine Umfrage zu machen: Wie viele der Besucher*innen glauben nach den 215 Minuten (inklusive einer 15-minütigen Intermission) von „The Brutalist“ wohl, dass der Protagonist László Tóth wirklich gelebt hat? Es werden nicht wenige sein. Schließlich entwirft der ehemalige Schauspieler Brady Corbet („The Childhood Of A Leader“) in seiner dritten Regiearbeit eine derart epische (Fake-)Biografie für den 1947 aus Ungarn in die USA emigrierten Bauhaus-Architekten, dass es fast unvorstellbar scheint, dass sich jemand all diese Mühe nur für einen Film gemacht hat. Aber was pure Ambition angeht, stellt Corbet inzwischen eben selbst solche Regisseure wie Christopher Nolan („Oppenheimer“) oder Paul Thomas Anderson („There Will Be Blood“) in den Schatten – und dabei sind auch die schon für ihre formale Experimentierfreude und Kompromisslosigkeit berühmt-berüchtigt.
Wie „Die zehn Gebote“, „Krieg und Frieden“ und „Vertigo“ im eigentlich schon 1963 weitestgehend ausgestorbenen VistaVision-Format auf analogem Filmmaterial gedreht, wurde „The Brutalist“ bei seiner Weltpremiere beim Filmfest in Venedig als analoge 70mm-Kopie präsentiert. Und es sollte fortan – einer cinephilen Pilgerfahrt gleich – die Aufgabe jedes echten Kinofans sein, eine der vermutlich viel zu seltenen 70mm-Vorführungen zu besuchen: „The Brutalist“ wird zwar auch in digitalen Projektionen mit Sicherheit zu den am besten aussehenden Filmen des Jahrzehnts zählen, aber die Farben, die Körnigkeit, das Spiel mit Licht und Schatten, mit Schärfen und Unschärfen, einfach die pure haptische Qualität wird sich niemals perfekt in Einsen und Nullen übertragen lassen. Ganz offensichtlich ist Corbet ähnlich getrieben vom Streben nach absoluter Schönheit wie sein Protagonist.
Vor dem Naziüberfall auf Ungarn wurde der jüdische Architekt László Tóth (Adrien Brody) als visionärer Vorantreiber des Bauhaus-Stils gefeiert. Im Jahr 1947 erreicht er die USA trotzdem vollkommen mittellos, seine Frau Erzsébet (Felicity Jones) und seine stumm gewordene Nichte Zsófia (Raffey Cassidy) musste er sogar in Europa zurücklassen. Zunächst kann er noch auf die Hilfe seines Cousins Attila (Alessandro Nivola) zählen, aber dessen eifersüchtige katholische Ehefrau Audrey (Emma Laird) sorgt dafür, dass László schließlich auf der Straße landet: Mit Hilfsarbeiten auf dem Bau hält er sich gerade so über Wasser, während er die Nächte mit seinem neuen besten Freund Gordon (Isaach De Bankolé) in einem christlichen Männerwohnheim verbringt (und sich dabei weiter Morphium spritzt, nach dem er süchtig ist, seit seine schweren Gesichtsverletzungen bei der Überfahrt nach New York damit behandelt wurden).
Sein Glück wendet sich erst, als er die Bibliothek von Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce) renoviert. Der superreiche Magnat ist zwar zunächst ganz und gar nicht begeistert von der radikal reduzierten, rein funktionalen Form. Aber als selbst die Architektur-Zeitungen von seinem vermeintlich stilsicheren Geschmack zu schwärmen beginnen, ist er plötzlich Feuer und Flamme: Nach ihrem Tod will er seiner geliebten Mutter zu Ehren auf einem Hügel in der Nähe seines Anwesens ein Ehrenmal errichten lassen, bestehend aus einer Bibliothek, einer Sporthalle, einem Auditorium und einer Kapelle – und László soll das Mammutprojekt entwerfen. In den folgenden Jahren lebt der Architekt auf dem Anwesen seines Bauherren und kann schließlich sogar seine Frau in die USA nachholen. Aber zugleich ist er dermaßen unnachgiebig im Verfolgen seiner Vision, dass sich die Konflikte mit den Geldgebern, den Bauunternehmern und der örtlichen Gemeinschaft immer weiter zuspitzen…
Die Verwendung des VistaVision-Formats ist keine selbstverliebte Schnapsidee eines Hollywood-Technik-Nerds, der einfach nur auf den „retro“-Trend aufspringen will. Vielmehr lässt Brady Corbet eine vergangene Ära auf der Leinwand tatsächlich wieder auferstehen. Und zwar nicht in erster Linie durch ein Mammut-Budget für Kostüme, Sets und Statisten, mit denen andere Historien-Produktionen gerne prahlen. Stattdessen nähert sich Corbet der Epoche vor allem durch die Taktilität seiner Bilder: Vielleicht gehören gerade deshalb die Kamerafahrten entlang von Materialien, sei es der Marmor eines Steinbruchs in Italien oder der Beton von Lászlós multifunktionalem Magnus Opus auf dem Hügel in der Nähe von Philadelphia, zu den herausstechenden Einstellungen des Films. Man sieht die Stoffe nicht nur, man fühlt sie regelrecht. Aber nicht, dass jetzt ein falscher Eindruck entsteht, „The Brutalist“ ist keinesfalls ein Form-über-Inhalt-Museumsstück.
Dass Brady Corbet gerade an der Baukunst seines Protagonisten ein solches Interesse hat, kommt zwar gar nicht mal so überraschend. Schließlich gab es in seinem vorherigen Film „Vox Lux“ bereits ein plötzliches Zwischenspiel über die Architektur Manhattans. Doch irgendwo zwischen „Citizen Kane“, „Fitzcarraldo“, „Es war einmal in Amerika“ und „The Fountainhead“ geht es noch um so viel mehr Themen. „The Brutalist“ ist auch eine epische Einwanderungsgeschichte und damit ein Film über das Amerika des 20. Jahrhunderts. Außerdem geht es um den ewigen Widerstreit zwischen jenen, die etwas haben, und jenen, die etwas können: Guy Pearce („Memento“) liefert dabei die beste Leistung seiner Karriere als opportunistischer Selfmade-Millionär, der sich nur deshalb als Mäzen der Betonkunst verschrieben hat, weil er bei seiner vorherigen Leidenschaft bereits genug teuren Wein im Keller angesammelt hat, um bis an sein großzügig kalkuliertes Lebensende jeden Tag eine Flasche davon zu trinken. Und auch Joe Alwyn („Kinds Of Kindness“) als sein hyper-kapitalistischer Sohn Harry liefert wunderbar schmierige Auftritte, die vor privilegiertem Anspruchsdenken nur so triefen.
Adrien Brody hat zwar bereits für „Der Pianist“ einen verdienten Oscar gewonnen, aber seine Leistung in „The Brutalist“ ist mindestens auf demselben Level: Sein László Tóth ist eine derart ambivalente Figur, dass sie tatsächlich schnell so viel echter und lebendiger wirkt, als die meisten Biopic-Protagonisten, die auf realen Vorbildern basieren. Wenn Tóths perfektionistischem Streben immer wieder vom nächsten Rückschlag Einhalt geboten wird, liefert Brody eine absolut niederschmetternde Performance. An seiner Seite brilliert Felicity Jones („Die Entdeckung der Unendlichkeit“) als vom Hunger in den Rollstuhl gezwungene Erzsébet, die dem zwanghaften Genie ihres Mannes eine ebenso kompromisslose Empathie und schlagfertige Lebensklugheit entgegensetzt.
Fazit: Wäre „The Brutalist“ ein literarisches Werk, würde man ihm wohl den Stempel eines Jahrhundert-Romans aufdrücken. Brady Corbet entwirft hier eine solch gewaltige Vision von Licht, Dunkelheit und Beton, dass das Projekt realistischerweise eigentlich nur komplett scheitern oder sich als selbstverliebt-prätentiöser Mummenschanz entpuppen konnte. Aber Pustekuchen! „The Brutalist“ ist ein wahnsinnig ambitionierter und trotz seiner stolzen Laufzeit konstant mitreißender Instant-Klassiker, der so ziemlich alle anderen Kino-Biografien, ob nun von realen oder fantasierten Personen, plötzlich ziemlich unbedeutend und klein erscheinen lässt.
Wir haben „The Brutalist“ beim Filmfest Venedig 2024, wo er als analoge 70mm-Projektion im offiziellen Wettbewerb vorgeführt wurde.