Bevor er sich in seiner düsteren Dschungelbuch-Verfilmung „Mowgli“ sicherlich auf das konzentrieren wird, wovon er inzwischen wohl mehr versteht als jeder andere Mensch auf diesem Planeten, nämlich visuell atemberaubende und schauspielerisch wahrhaftige Motion-Capture-Aufnahmen, hat sich Andy Serkis (Gollum in „Der Herr der Ringe“, Caesar in „Planet der Affen“) für sein Regiedebüt erst einmal eines sehr viel persönlicheren Themas angenommen: In „Solange ich atme“ erzählt er die Geschichte von Robin Cavendish, einem nach seiner Polioerkrankung erst ans Bett und dann an den Rollstuhl gefesselten Vorreiter für die Rechte von körperlich Behinderten – und zugleich der Vater von Serkis‘ gutem Freund und Produktionspartner Jonathan Cavendish. Aber mit den privaten Verbindungen ist das eben so eine Sache – mal zahlen sie sich hundertfach aus, mal stehen sie einem offenen Blick im Weg. Im Fall von „Solange ich atme“ hätte ein wenig mehr Abstand sicher nicht geschadet: Denn während die herausragenden Hauptdarsteller Andrew Garfield und Claire Foy sichtlich alles tun, um zum Kern ihrer Figuren vorzustoßen, haben sie am Ende doch keine Chance gegen ihren Regisseur und ihren Produzenten, die ihren sommerlich-seichten Film offenbar in erster Linie für ihr privates Poesiealbum gedreht haben.
Nach ihrer Heirat nimmt Robin Cavendish (Andrew Garfield) seine frisch Angetraute Diana (Claire Foy) 1958 mit nach Kenia, wo er als Teeeinkäufer sein Geld verdient. Aber dann erkrankt er schwer an Polio – fortan ist er vom Kopf abwärts vollständig gelähmt, nicht einmal atmen kann er mehr ohne eine spezielle Maschine. Die Ärzte geben Robin nur noch wenige Monate zu leben, trotzdem nimmt Diana ihren Mann 1960 wieder mit zurück in die britische Heimat. Auch hier ist er noch immer ans Bett gefesselt, denn ohne die Maschine kann er nur wenige Minuten überleben – und so formuliert er immer wieder den Wunsch, möglichst bald zu sterben. Aber dann hat der mit ihm befreundete Professor Teddy Hall (Hugh Bonneville) eine alles verändernde Idee: Er entwirft einen Rollstuhl mit integriertem Beatmungsgerät. So erhält Robin endlich wieder die Chance, hinauszukommen und die Welt zu sehen. Außerdem engagiert er sich zunehmend dafür, dass andere Menschen in einer ähnlichen Situation dieselben Möglichkeiten erhalten sollen…
Der obligatorische „Wahre Begebenheit“-Hinweis zu Beginn ist in einer goldgeben Schrift gehalten und die ersten paar Minuten, in denen das Kennenlernen von Robin und Diana geschildert wird, fühlen sich an wie der Schnelldurchlauf eines Jane-Austen-Romans. Wenn man weiß, wie die Geschichte weitergehen wird, dann denkt man sich an dieser Stelle: „Okay, das ergibt Sinn, in der Rückschau müssen diese unbeschwert-gesunden Tage ja tatsächlich wie ein Märchen aus weit zurückliegender Zeit anmuten.“ Aber Pustekuchen! Regisseur Andy Serkis und seinen Kameramann Robert Richardson (immerhin ein dreifacher Oscarpreisträger für „JFK“, „Aviator“ und „Hugo Cabret“, dazu weitere hochkarätige Credits wie „Kill Bill“ oder „The Hateful 8“) ziehen diesen märchenhaft-sonnigen und zugleich verklärend-seichten Stil konsequent durch. Und diese Schönfärberei beschränkt sich leider nicht nur auf die visuelle Gestaltung des Films.
Dass Robin nach ein bisschen leichtem Training (so fühlt sich das zumindest im Film an) wieder fast normal sprechen kann, ist ein Kniff der Filmemacher, denn in Wahrheit ist das so einfach eben nicht möglich, weil das Beatmungsgerät verhindert, dass die Luft die Stimmenbänder erreicht. Aber okay, das ist noch eine verzeihliche Erleichterung. Viel schlimmer ist, dass die Filmemacher oft lieber direkt zu den erbaulichen Erfolgsszenen vorspringen, statt ihren Figuren auch einmal angemessen Zeit für ihre inneren Konflikte und dunklen Gedanken zu geben. Zwar darf Robin zu Beginn durchaus einmal sagen, dass er nur noch sterben will, aber darüber wird anschließend schnell wieder hinweggegangen – und Diana muss sogar in jeder Szene die perfekte Ehefrau sein (man mag sich die eindimensionale Rolle ohne die Klasse von „The Crown“-Star Claire Foy gar nicht vorstellen). Aber ohne ein inszenatorisches und erzählerisches Gespür für die unglaubliche körperliche und emotionale Energie, die das Paar auch in düsteren Momenten immer wieder aufgebracht haben muss, entfalten eben auch die Erfolgsmomente bei weitem nicht den emotionalen Punch, den sie eigentlich verdient hätten.
Wenn Diana zu Beginn des Films erzählt, dass sie schwanger ist, dann geschieht das vor einer wunderschönen Sonnenuntergangskulisse in der afrikanischen Steppe. Allerdings legt Andrew Garfield („The Amazing Spider-Man“, Oscarnominierung für „Hacksaw Ridge“) so unfassbar viel wahrhaftige Emotionen in Robins Reaktion auf diese Nachricht, dass die kurze Szene allen Klischees zum Trotz zu den besten des Films zählt. Hätte man diese Performance genommen und den weiteren Film darauf aufgebaut, hätte „Solange ich atme“ ein Meisterwerk werden können. Leider hat sich Andy Serkis stattdessen für den hübschen Sonnenuntergang im Hintergrund als Grundlage für alles Weitere entschieden.
Fazit: „Solange ich atme“ setzt seinem Protagonisten und dessen Errungenschaften ein verdientes filmisches Denkmal – wird ihm und seinem Kampf dabei aber trotz starker Schauspieler nie gerecht.