Mit wachsender Liebe geht manchmal der zunehmende Verlust der Selbstachtung einher. Wohl jeder ist aus amourösen Motiven schon einmal zu weit gegangen und hat Dinge getan, die er gern vergessen würde. Doch es gibt Trost: So ergeht es auch echten Berühmtheiten, was immer wieder Stoff für die große Leinwand bietet. So konnte man in „Goethe!" sehen, wie der Dichterfürst in Weimar aus Liebe zu seiner Lotte von einem Fettnäpfchen ins nächste stolperte, wurde in „My Week with Marilyn" Zeuge, wie sich Kinodiva Marilyn Monroe im Pillentaumel jedem dahergelaufenen Mann an den Hals warf und bekam in „Capote", „Walk the Line" und „J. Edgar" einen Eindruck von den überaus komplizierten Liebesgeschichten dreier gestandener prominenter Männer. Nun wird auch Meisterregisseur Alfred Hitchcock in diese illustre Riege eingereiht: In „The Girl" erzählt Regisseur Julian Jarrold die Geschichte der Dreharbeiten zum Horror-Klassiker „Die Vögel", während der sich der Meister einmal mehr in seine junge und schöne Hauptdarstellerin verliebte. Das Objekt der Begierde zeigte sich allerdings ganz wie seine Vorgängerinnen wenig begeistert und Hitchcocks Gefühle für Tippi Hedren blieben unerwidert. Dessen Passion für spannendes, innovatives und doppelbödiges Geschichtenerzählen tat dies jedoch keinen Abbruch. Mit dem biografischen Drama „The Girl" wird einem der Größten der Filmgeschichte ein respektvolles, doch nie verklärendes Denkmal gesetzt.
1961 ist Alfred Hitchcock (Toby Jones) auf dem Gipfel seiner Macht in Hollywood. Mit Hits und Kritikerlieblingen hat er sich eine Sonderstellung und die volle Kontrolle über seine Produktionen erarbeitet. Obwohl er mit der loyalen, wenn auch etwas biederen, Alma (Imelda Staunton) eine durchaus glückliche Ehe führt, ist der Regisseur regelmäßig vernarrt in die jungen Blondinen, die er bei seinen Filmen besetzt. Als er nach einer Hauptdarstellerin für sein neues Werk „Die Vögel" sucht, fällt seine Wahl auf das schauspielerisch gänzlich unbewanderte Model Tippi Hedren (Sienna Miller), der er sofort schöne Augen macht. Als die junge Frau jedoch wenig Interesse zeigt, sich auf ein Techtelmechtel mit dem deutlich älteren und sehr von sich selbst eingenommenen Regisseur einzulassen, wird der Ton am Set deutlich kühler.
In den vergangenen 15 Jahren hat der amerikanische Pay-TV-Sender HBO mit Serien wie „The Wire" oder „Die Sopranos" gezeigt, dass das Fernsehen bei der richtigen Umsetzung Möglichkeiten des Geschichtenerzählens offenbart, mit denen ein Kinofilm niemals konkurrieren kann. Doch HBO steht nicht nur im Serienbereich für eine außerordentliche Qualität. Auch die Filmproduktionen des Senders haben nicht erst seit Gus van Sants Cannes-Triumph „Elephant" zu Recht einen hervorragenden Ruf, oft sind die Pay-TV-Produktionen sogar der Kinokonkurrenz überlegen. So ist etwa Curtis Hansons HBO-Film „Too Big to Fail " über die Wirtschaftskrise noch eindrucksvoller geraten als J.C. Chandors oscarnominierter Berlinale-Beitrag „Margin Call". Und so engagiert George Clooney in „Ides of March" die verderbende Macht der Politik zeigt – wie es wirklich zugeht, das sehen wir in der HBO-Produktion „Game Change " von Jay Roach. „The Girl" läutet ein erneutes Duell „Kino vs. HBO" ein, denn auf das Fernseh-Drama folgt in den Lichtspielhäusern „Hitchcock" mit Anthony Hopkins in der Rolle des legendären Meisterregisseurs. Und für den liegt die Messlatte nun schon einmal ziemlich hoch.
Hauptdarsteller Toby Jones („Dame, König, As, Spion") gibt einen formidablen „Master of Suspense" ab. Hals über Kopf stürzt er sich in die Verkörperung des dicken Maestros in Liebesnöten. Allein das sonore Schnurren, mit dem er die Worte mehr heraushaucht als spricht, ist eine wahre Pracht. Auch die Körpersprache des eitlen, leicht größenwahnsinnigen, aber auch von Minderwertigkeitsgefühlen zerfressenen Regisseurs, ist ein wahrer Genuss. Ihm gegenüber steht die britische Leinwandschönheit Sienna Miller („Factory Girl"), deren Talent bislang allzu oft im Schatten ihres guten Aussehens stand. Nicht die einzige Parallele zu ihrer Rolle, denn während Alfred Hitchcock sich seinen Status hart erkämpfen musste, flog er Tippi Hedren und auch Miller allein auf Grund ihrer Schönheit förmlich zu. Mit einer nuancierten Darstellung deutet diese an, wie selbstverständlich es für Hedren war, bewundert und angehimmelt zu werden. So reißen die beiden Hauptdarsteller den Film beherzt an sich, stellen sich dabei aber ganz in den Dienst der Geschichte eines Mannes, der es zwar zu beträchtlichem Ruhm brachte und fast sein Leben lang von Glanz und Luxus umgeben war, dabei aber selbst nicht im Geringsten glamourös wirkte. Hitchcock erscheint hier als ein verzweifelter, ein lächerlicher und zuletzt vor allem tragischer Mann, der haben will, was er nicht haben kann.
„The Girl" ist tadellos erzählt und fotografiert, temporeich montiert und geschmackvoll ausgestattet, wobei die Inszenierung sich nie in den Vordergrund schiebt. Regisseur Regisseur Julian Jarrold („Geliebte Jane", „Red Riding - Yorkshire Killer 1974") ist spürbar fasziniert von den Träumen, der Schönheit und dem Talent seiner Protagonisten, aber er verklärt sie nicht und versucht auch nicht, das reichlich komplizierte Beziehungsgeflecht zu glätten. So sind es gerade die ambivalenten Momente, die den Psychospielchen zwischen der angehimmelten Schauspieldebütantin Hedren und dem buhlenden Erfolgsregisseur Hitchcock ihren besonderen Reiz verleihen. Immer wieder wirkt dessen von Narzissmus angeschobene Balz geradezu jämmerlich und eher peinlich. Hedren wiederum schmecken diese Annäherungen zwar nicht, aber sie erträgt sie aus Karrieregründen. Reich an Zwischentönen ist „The Girl" eine tragische, doch nie melodramatisch ausgewalzte Geschichte über Popularität, Starkult, Liebe und Eitelkeit, deren Hellsicht und Beobachtungsgabe bestechend sind.
Fazit: Mit Julian Jarrolds „The Girl" ist dem amerikanischen Pay-TV-Sender HBO wieder ein echter Treffer gelungen. Das ohne Umschweife erzählte und erlesen ausgestattete Drama bietet zwei tollen Hauptdarstellern die Bühne für eines der interessantesten Schauspielduelle des Jahres.