+++ Meinung +++
Ich gebe es zu: Ich war viel zu optimistisch. Ich ging davon aus, dass wir im Juli 2020 „Tenet“ und „Mulan“ sehen und das Kino sich aus der Corona-Krise bewegen würde. Und der Zeitplan schien sich zu bewahrheiten. Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen anderen Ländern konnten die Kinos wieder rechtzeitig öffnen und zeigen auch schon den ganzen Juli über wieder Filme. Es sind notwendige Einschränkungen mit einem Besuch verbunden, doch ich kann nach mehreren Vorführungen sagen: Kino ist nach wie vor ein tolles Erlebnis!
Doch der mehrfach verschobene Kinostart von „Mulan“ wurde gerade erst einmal abgesagt und auch ein Termin für Christopher Nolans „Tenet“ ist noch ungewiss. Denn in den USA hat sich die Lage nicht gebessert – ganz im Gegenteil. Dort ist das Gros der Kinos weiter zu – und wird es wohl auch noch eine Weile bleiben. Und die meisten Blockbuster kommen nun einmal aus Hollywood, wo immer noch der Gedanke regiert: Die Filme müssen zuerst vor der eigenen Haustür erscheinen!
Doch hier muss ein Umdenken her: Es braucht in dieser besonderen Ausnahmesituation eine gestaffelte Veröffentlichung!
Fluch und Segen moderner Entwicklungen
Früher war diese selbstverständlich. Filmrollen mussten durch die Welt gekarrt werden, Synchronisationen erledigt werden, es war oft schon logistische Logik, dass es viele Monate dauerte, bis ein Film überall in der Welt erschienen war.
Heute sind Filme meist Datensätze, die in Sekundenschnelle durch die Welt geschickt werden. Zeitgleiche Veröffentlichungen sind daher keine logistische Herausforderung mehr, sondern in der globalen Welt sogar eine logische Selbstverständlichkeit, weil man Werbewirkung bündeln kann.
Doch gleichzeitig landen Filme auch so schnell wie nie zuvor illegal im Netz. Die Verleiher haben also die Angst, wenn sie ihre Filme jetzt in Europa veröffentlichen, dass sie die US-Kinogänger illegal schauen statt Monate auf den dortigen Kinostart zu warten.
Doch sorry liebe Verleiher: Ihr müsst dieses Risiko eingehen, auch wenn ihr mit euren Filmen vielleicht kurzfristig Verluste macht, denn sonst lauft ihr Gefahr, langfristig gar nichts mehr mit Kino zu verdienen.
Die Kinos drohen zu sterben!
Die vergangenen Wochen haben es gezeigt: Ohne die großen Blockbuster gehen zu wenig Leute in Deutschland (und in vielen anderen Ländern) ins Kino. Man kann sicher einen eigenen Artikel damit füllen, ob die Kinos daran auch eine Mitschuld tragen, weil es hierzulande – im Gegensatz zum Beispiel zu Frankreich – keine gemeinsame Wiedereröffnungskampagne der gesamten Branche gab, aber wir sind in der Misere, das viele Leute gar nicht mitbekommen haben, dass die Kinos wieder aufhaben oder auf „Tenet“ und Co. warten.
Wir haben so das Problem, dass die Kinos langsam verhungern, weil sie beim derzeitigen Besucherinteresse weit weg von rentabel sind. Viele melden bereits, dass sie auch im Vertrauen auf die Starts von „Tenet“ und „Mulan“ ihre Pforten geöffnet haben, um sich in zwei bis drei dürreren Wochen auf den mit diesen Filmen verbundenen Besucheranstieg vorzubereiten, nur um nun zu erleben, dass aus Hollywood kaum etwas kommt. Doch eine erneute Schließung ist oft keine Option, denn es wäre die endgültige.
Der letzte Ausweg sind wohl die großen Filme, welche die Leute anziehen, um weitere Filme zu schauen…
Disney, Warner und Co. müssen reagieren
Mein größter Respekt gilt Verleihern wie capelight, Wild Bunch oder Leonine, die mit Veröffentlichungen wie „Rettet den Zoo“, „Meine Freundin Conni – Geheimnis um Kater mau“ oder „Unhinged“ trotz des großen Risiko und teilweise deutlicher Flopgefahr vorangehen. Sie können das auch tun, weil sie nicht (oder nicht so sehr) von Firmenleitungen in den USA abhängig sind, doch das reicht nicht.
Die großen Hollywood-Studios, die global ihre Filme auf der Welt selbst veröffentlichen, müssen tätig werden – und ihre Filme dort zeigen, wo es aktuell möglich ist: Disney muss „Mulan“ veröffentlichen, Warner wirklich mit „Tenet“ rausrücken (was nun für Ende August zumindest so ausschaut), auch wenn die US-Kinos zu sind.
Meine Hoffnung ist, dass diese Filme wieder mehr Leute ins Kino locken werden, die dann dort Plakate und Trailer etc. für weitere Filme sehen und dann vielleicht auch in einen „Out Of Play“ mit Ben Affleck gehen.
Schon mein Kollege Christoph Petersen hat anlässlich der Veröffentlichung von „Unhinged“ nur in der deutschen Synchronisation vergangene Woche geschrieben: „Die Konzepte, wie man auch große Blockbuster weltweit in die Kinos bringen kann, müssen in der aktuellen Situation völlig neu gedacht werden!“ Recht hat er!
"Unhinged – Ausser Kontrolle": Der Action-Thriller läuft nur in der Synchro – und das ist großartig!Die Aufgabe der Verleiher ist es nun, diese Konzepte neu zu denken, einen Weg zu finden, in Deutschland (oder anderswo) große Blockbuster herauszubringen, auch wenn sie in den USA auf sich warten lassen.
Doch nicht nur die Verleiher sind in der Pflicht, wenn es darum geht, das Kino zu retten, sondern auch wir Besucher!
Wartet nicht: Geht ins Kino
Mein abschließender Appell daher: Geht ins Kino, auch wenn „Tenet“ und Co. weiter auf sich warten lassen. Es gibt auch ohne die Blockbuster genug zu sehen!
Ein paar Tipps gefällig?
Nächste Woche läuft zum Beispiel „The King Of Staten Island“ an, der zwar parallel auch als VoD erscheint, aber mit den Bildern von Kameralegende Robert Elswitt (“There Will Be Blood“) ein ganz wunderbares Kinoerlebnis ist.
Oder schaut ganz aktuell „Berlin Alexanderplatz“. Ich kann mich den Begeisterungsstürmen in unserer Kritik oder des Kollegen Daniel Fabian zwar nicht anschließen: Für mich scheitert das überambitionierte Drama kolossal! Aber ich bin trotzdem froh, ihn auf der großen Leinwand gesehen zu haben. Denn genauso kolossal wie das Scheitern sind einige Bilder, die auf dem TV-Bildschirm weniger wirken werden. Und obwohl mich der Film am Ende enttäuschte, war er trotzdem ein beeindruckendes Erlebnis – und definitiv einer der interessantesten Kinofilme der vergangenen Jahre.
Oder haltet Ausschau nach Klassikern, die vielfach ins Programm genommen werden: Ich habe zuletzt „Spiel mir das Lied vom Tod“ mal wieder auf großer Leinwand geschaut, was einfach sensationell war.
Schaut euch um! Checkt regelmäßig die Webseiten eurer Lieblingskinos (und natürlich auch bei uns auf FILMSTARTS.de), was es gibt: Ob neue Veröffentlichungen, immer noch laufende Hits aus den ersten Monaten des Jahres und Wiederaufführungen. Deutlich über 400 Filme sind in diesen Tagen in den deutschen Kinos zu sehen und jede Woche gibt es andere. Da kann mir niemand, der Filme liebt, sagen, dass nicht über ein Dutzend dabei sind, die er sehen will. Und mit etwas Glück läuft einer davon in eurer Nähe.
Abschließend ein kurzer Transparenz-Hinweis: Natürlich leiden auch wir bei FILMSTARTS.de neben den Verleihern und den Kinos massiv unter der Corona-Pandemie – obwohl wir dank eines Leser-Ansturms auf viele Streamingthemen in den vergangenen Monaten insgesamt Rekord-Besucherzahlen verzeichnen konnten.
Trotzdem hat mein Appell nichts damit zu tun, sondern ich bin überzeugt, dass ohne ein Umdenken der bisherigen Startpolitik mit einer das Feld anführenden US-Veröffentlichung die Kinos wirklich vom Aussterben bedroht sind. Vielleicht bin ich dann jetzt nicht mehr zu optimistisch, sondern zu pessimistisch: Aber wenn wir auf zu viele Filme bis 2021 warten müssen, gibt es dann nicht mehr viele Kinos, um sie noch zu zeigen.