Ein besonderes Kino-Erlebnis
Von Björn BecherMan könnte wohl ohne viel Übertreibung behaupten, dass Judd Apatow in den vergangenen 20 Jahren der bedeutendste Komödien-Macher Hollywoods war. Immerhin inszenierte er nicht nur Hits wie „Jungfrau (40), männlich, sucht …“ oder „Beim ersten Mal“ selbst, sondern förderte als umtriebiger Produzent auch so unterschiedliche Stars wie Seth Rogen („Superbad“) oder Lena Dunham („Girls“), die inzwischen längst selbst zu prägenden Stimmen der aktuellen Kino-, TV- und Streaming-Landschaft gereift sind.
Wenn sich Apatow nun mit dem für seine Provokationen berüchtigten Stand-Up-Komiker Pete Davidson („Saturday Night Live“) zusammentut, dann liegt der Verdacht nahe, dass die beiden eine Komödie drehen. Doch „The King Of Staten Island“ ist in erster Linie ein einfühlsames Drama, in dem Apatow wie schon bei „Wie das Leben so spielt“ oder „Immer Ärger mit 40“ auch deutlich ernstere Zwischentöne anschlägt, während er von der eigentlichen Story immer wieder abschweift (und den Film damit durchaus auch in die Länge zieht). Die lose vom realen Leben des Hauptdarstellers beeinflusste Geschichte ist aber trotzdem ganz besonders – und in entscheidenden Momenten immer herzerwärmend und komisch.
Pete Davidson ist der König von Staten Island.
Scott (Pete Davidson) ist zwar schon Mitte 20, wohnt aber trotzdem noch bei seiner alleinerziehenden Mutter Margie (Marisa Tomei). Er konsumiert den ganzen Tag Drogen, ist depressiv, hängt mit seinen Slacker-Kumpeln ab und hat einen nur sehr wagen (und sehr stupiden) Traum, das weltweit erste Tattoo-Restaurant zu eröffnen - wobei das Gros seiner Tattoo-Arbeiten, für die fast jede freie Hautstelle seiner Freunde herhalten musste, ohnehin ziemlich übel sind. Doch Scotts Leben ändert sich durch mehrere Veränderungen schlagartig.
Kelsey (Bel Powley), mit der er seit Kindheitstagen befreundet ist und mit der er gelegentlich Sex hat, will eine echte Beziehung. Scotts kleine Schwester Claire (Maude Apatow) wechselt unterdessen aufs College und verschwindet damit als Konstante aus seinem Leben. Zudem findet seine Mutter nach 17 Jahren plötzlich auch noch einen neuen Mann: Der geschiedene Ray (Bill Burr) hält wenig davon, dass Pete so ziellos herumhängt - und ist zudem auch noch Feuerwehrmann, genau wie Scotts bei einem Rettungseinsatz um Leben gekommener Vater.
„The King Of Staten Island“ ist lose vom wahren Leben von Pete Davidson beeinflusst. Dessen Vater Scott (daher auch der Rollenname der Figur) starb als Feuerwehrmann bei den Rettungseinsätzen nach den Anschlägen am 11. September. Auch Davidson fand es lange Zeit schwer, seinen Platz im Leben zu finden, hat heute noch Depressionen und verbringt seine Zeit am liebsten kiffend im Keller seiner Mutter, wo er trotz Starruhms und zwischenzeitlicher, für große Schlagzeilen sorgender Beziehungen mit Superstars wie Ariana Grande und Kate Beckinsale aktuell lebt.
Apatow, Davidson und ihr Co-Autor Dave Sirus (ebenfalls „Saturday Night Live“) liefern deshalb aber noch lange kein Davidson-Biopic ab. Sie übertragen zwar einzelne Elemente der realen Person auf eine fiktive Figur, die auch mit Mitte 20 noch nichts mit ihrem Leben anzufangen weiß. So wie Scott in den Tag hineinlebt, so inszeniert Apatow auch seinen Film. Viele der größtenteils improvisierten Szenen ufern ohne klaren Endpunkt aus. Der Regisseur vermied es spürbar, eine (zu) klare Linie vorzugeben. Dazu wechselt er auch immer wieder Thema, Ton und sogar das Figurentableau.
Scott und seine Kiffer-Runde.
Da gibt es dann plötzlich eine längere Romantik-Collage mit Margie und Ray, in der eine lange Abfolge von Dates mit Musik zusammengeschnitten wird – als wären wir in einer klassischen RomCom mit ihnen als Protagonisten. Stattdessen sind sie ja eigentlich nur Nebenfiguren in einem Coming-Of-Age-Drama über einen Kiffer. Andere Figuren (wie zum Beispiel Scotts Stoner-Kumpel) verschwinden einfach nach und nach, weil sich der Fokus der Handlung verschiebt und andere Personen weiter ins Zentrum rücken (wie im wahren Leben, auch wenn man solche ganz natürlichen Verschiebungen im Kino eigentlich nicht gewohnt ist).
Die „Story“ fließt dabei vor sich hin – ohne dass dem Zuschauer mitgeteilt würde, wie viele Tage, Wochen oder Monate eigentlich vergehen. Schließlich lebt auch Scott ohne Zeitgefühl in den Tag hinein, wie er schon zu Beginn deutlich macht. Immer wieder gibt es neue Nebengeschichten, die vom Rand ins Zentrum rücken. Doch es steckt eine Methode dahinter, denn all die kleinen Erlebnisse formen nach und nach die Hauptfigur, sorgen für dessen (ver)spät(et)e Entwicklung.
Das wird manchem Zuschauer zu wenig fokussiert sein. Doch es lohnt sich, die zahlreiche kleinen, ans Herz gehenden Momente in der lose strukturierten Szenenabfolge zu entdecken. Wenn Scott etwa die Aufgabe bekommt, Rays kleine Kinder aus erster Ehe zur Schule zu bringen und zum ersten Mal so etwas wie Verantwortung spürt. Auch hier bleibt „The King Of Staten Island“ meist ganz unaufgeregt. Apatow würzt solche Momente nur selten mit (vielleicht zu erwartender) Dramatik. Ein aus dem Ruder laufender nächtlicher Einbruch ist da schon die absolute Ausnahme und selbst der ist nicht mehr als ein komisches Intermezzo.
„The King Of Staten Island“ mag dabei an der ein oder anderen Stelle zu lang sein, was sich aber allein schon für die wirklich emotional erstklassige finale halbe Stunde durchzuhalten lohnt. Mit den Schlussszenen setzt Apatow zudem der New Yorker Feuerwehr (mit unter anderem Steve Buscemi, der selbst lange Jahre als Feuerwehrmann in Manhattan tätig war) ein kleines Denkmal. Der Umgang einer verschworenen Gemeinschaft aus Feuerwehrleuten mit dem plötzlich in ihrer Mitte platzierten Scott ist gleich für eine ganze Reihe ebenso komischer wie herzlicher Highlights verantwortlich.
Von Steve Buscemi als Feuerwehrmann lernt Scott eine wichtige Lektion.
Getragen wird „The King Of Staten Island“ von einem sensationellen Cast. Neben Pete Davidson, der schon in einer kleinen Nebenrolle in Apatows „Dating Queen“ dabei war, stechen vor allem Bel Powley, Bill Burr und natürlich Marisa Tomei heraus. Die einst mit ihrer längst legendären, oscargekrönten Darstellung in „Mein Vetter Winnie“ einem großen Publikum bekannt gewordene Schauspielerin beweist mal wieder, wie sehr sie eine Szene an sich reißen kann. Ihre Shut-The-Fuck-Up-Rede nach einer Prügelei der beiden Männer in ihrem Leben ist ganz großes Kino.
Nicht nur in dieser Szene ist die Kamera nah dran an den Figuren. Oscarpreisträger Robert Elswitt, der bislang die Dramen von Paul Thomas Anderson („There Will Be Blood“), die düsteren Straßen in „Nightcrawler“ oder die Action in Filmen wie „The Town“ und „Mission: Impossible - Rogue Nation“ gefilmt hat, war Apatows so überraschende wie am Ende passende Wahl: Elswitt ist bekannt dafür, dass die von ihm fotografierten Filme einen realistisch-naturalistischen Look haben. Die Handkamera und die reduzierte Beleuchtung versetzen uns in „The King Of Staten Island“ immer mitten ins Leben von Hauptfigur Scott – und lassen uns so die langsame Entwicklung des Anfangs so unsympathischen Egoisten hautnah miterleben.
Fazit: „The King Of Staten Island“ ist lang und wabert wenig strukturiert vor sich hin. Doch dabei gibt es so viele tolle Momente, sensationelle Darstellerleistungen und starke Bilder, dass sich das Kinoerlebnis trotzdem auf ganzer Linie lohnt.