Gewagt und gewonnen!
Von Michael MeynsManchmal sind die einfachsten Ideen auch die besten. So wie diese: Alfred Döblins legendären Berlin-Roman „Berlin Alexanderplatz“, der die zwischen Exzess und Abgrund taumelnde Stimmung der 1920er Jahre wie kein Zweiter einfängt, in die Gegenwart zu verlegen – und aus dem Franz Biberkopf einen afrikanischen Flüchtling namens Francis zu machen, der nun in der Hauptstadt in etwa so viele Chancen hat wie vor 100 Jahren ein frisch entlassener Sträfling.
Mit diesem einfachen Kniff öffnet Burhan Qurbani die Geschichte für das Heute und schafft eine dreistündige, ebenso epische wie wuchtige Neuverfilmung. Der tragische Held taumelt zwischen dem Wunsch nach einem besseren Leben und den Verführungen einer Metropole voller Exzess. Getragen von einem großartigen Darsteller-Trio, aus dem der grandiose Albrecht Schuch sogar noch einmal herausragt, ist „Berlin Alexanderplatz“ ein mitreißender, schmerzhaft zeitgemäßer Berlin-Film.
Eine neue Version eines Klassikers.
Francis (Welket Bungué) ist aus seiner Heimat Guinea-Bissau geflohen, um nun das Mittelmeer in Richtung des vermeintlichen Paradieses Europa zu überqueren. Doch das Boot sinkt, mit Müh und Not überlebt Francis, aber seine Begleitung ertrinkt. Halbtot am Strand angespült, verspricht er dem lieben Gott, ein guter Mensch zu werden – doch als Flüchtling ohne Papiere ist das leichter gesagt als getan. Bald landet Francis in Berlin, wo er von dem verführerischen Reinhold (Albrecht Schuch) aufgelesen wird.
Reinhold rekrutiert als rechte Hand von Gangsterboss Pums (Joachim Król) Flüchtlinge als Drogenverkäufer. Doch Francis widersteht der Versuchung zunächst, stattdessen übernimmt er nur einen Job als Koch für die Dealer in der Hasenheide. Als der erratische Reinhold nach einem missglückten Überfall dafür sorgt, dass Francis den linken Arm verliert, nimmt ihn die als Escort-Dame arbeitende Mieze (Jella Haase) bei sich auf. Bald entwickelt sich eine große Liebe und Francis scheint endlich sein Glück gefunden zu haben. Doch Reinholds Anziehungskraft auf ihn bleibt unerträglich stark…
1929 veröffentlichte Alfred Döblin seinen Roman „Berlin Alexanderplatz“, der wegen seiner expressiven Sprache, seiner Montagetechnik und nicht zuletzt auch seiner Hauptfigur zu den bedeutendsten deutschsprachigen Romanen überhaupt zählt. Anhand von Franz Biberkopf, der zu Beginn der Geschichte aus dem Gefängnis entlassen wird und fortan ein rechtschaffenes Leben führen will, erzählte Döblin vom einfachen Mann, der an den Umständen der Zeit zerbricht. Schon 1932 verfilmte Phil Jutzi das Werk und ließ Heinrich George als Franz durch das Berlin der späten Weimarer Republik taumeln und am Kapitalismus scheitern.
Auch für einen der bedeutendsten deutschen Regisseure aller Zeiten ist „Berlin Alexanderplatz“ ein Schlüsselwerk: Rainer Werner Fassbinder nannte nicht nur immer wieder seine Figuren Franz, sondern verwendete als Pseudonym auch noch den Namen Franz Walsch. 1980, kurz vor seinem Tod, gelang es Fassbinder dann schließlich, seinen großen Lebenstraum zu verwirklichen und Döblins Roman zu verfilmen, als vierzehnteilige, fünfzehneinhalb Stunden lange Fernsehserie, die noch mal ein absoluter Höhepunkt eines an Meisterwerken gewiss nicht armen Schaffens war.
Reinhold mit Francis: ein gefährlicher Verführer.
Die Messlatte liegt also hoch, wenn sich Burhan Qurbani mit seinem dritten Spielfilm nun an dieses ganz große und vor allem auch schon zuvor ganz großartig verfilmte Werk heranwagt. Vor zehn Jahren hatte sich Qurbani mit seinem Debüt „Shahada“ schließlich inhaltlich noch übernommen und zu viele Themen in einen zu kurzen Film gepackt. Vier Jahre später zeigte der vor allem visuell beeindruckende Nachfolger „Wir sind jung. Wir sind stark.“ über die Ereignisse rund um den ausländerfeindlichen Asylantenheim-Anschlag in Rostock-Lichtenhagen 1992, aber bereits eine bemerkenswerte Entwicklung. Trotzdem ließ sich da noch nicht absehen, was für ein Pfund er nun mit „Berlin Alexanderplatz“ nachlegen würde: In satten drei Stunden zeichnet er in mitreißend-expressiven Bildern den Leidensweg eines Mannes, der zum Guten strebt und an der Gesellschaft scheitert.
Dass der Scheiternde dieses Mal schwarz ist, dass seine Erfahrung in einem heruntergekommenen Asylantenheim beginnt und bei den Drogendealern in der Hasenheide seine Fortsetzung findet, macht diese Geschichte auch zu einem Film über das moderne Deutschland. Allerdings einer Seite, die vom Gros der Bevölkerung gerne verdrängt wird, gerade auch von den feiersüchtigen Berlinern, die nur beim Drogenkauf („Hipster zahlen doppelt“) mit diesem Aspekt der Gesellschaft zu tun haben. Burhan Qurbani, selbst Sohn afghanischer Flüchtlinge, gibt diesen Menschen nun ein Gesicht. Stolz und schön ist sein Hauptdarsteller Welket Bungué, der selbst aus Guinea-Bissau stammt und seinen Francis bzw. seinen „Franz“ als tragische Figur anlegt, als Getriebenen, als Suchenden.
An seiner Seite brilliert die wunderbare Jella Haase („Das perfekte Geheimnis“) als Mieze – die Möglichkeit zur Erlösung, die Franz aber nicht ergreift. Sie ist der Eros, der in dieser Dreiecksbeziehung mit dem von Albrecht Schuchs verkörperten Thanatos um die Seele von Franz ringt. Wie Schuch diese Figur spielt, in gebückter Haltung, die ihn wie einen Dämon wirken lässt, mit blondierten, hochtoupierten Haaren und einer dünnen Fistelstimme, überragt alles. Sein Reinhold symbolisiert all das, was die verführerische Kraft des Kapitalismus ausmacht: Geld, Drogen, Sex. Doch hinter der verführerischen Fassade ist Reinhold ein zersetzendes Element, ein Krebsgeschwür, dem gerade ein Mensch, dem nicht wirklich erlaubt wird, Teil der Gesellschaft zu werden, allzu leicht zum Opfer fällt.
Leicht lässt sich „Berlin Alexanderplatz“ als gesellschaftskritischer Film lesen, doch Qurbani rückt dieses Element nie ausstellend in den Vordergrund. Stattdessen behandelt der Film wie das Buch seine Themen entlang einer Gangster-Geschichte, die geradezu klassisch von Aufstieg und Fall erzählt. Die epische Note des Ganzen wird vom ersten Moment an durch einen von Jella Haase gesprochenen Off-Kommentar erzeugt, der aus Passagen aus dem Roman besteht. Die altmodische Sprache erzeugt eine elegische Note, erst recht, da Mieze aus dem Reich der Toten spricht – und doch sind es am Ende die Bilder, die den Sog der Geschichte auch über drei Stunden hinweg anhalten lassen.
Mieze spricht aus dem Reich der Toten.
Auf den Straßen Berlins, in rauschhaften Clubs (einer heißt passenderweise „Neue Welt“), in der Hasenheide und natürlich auch am Alexanderplatz spielt dieser Film, eingefangen in flirrende Bilder. Francis' Leidensweg mag ein sehr spezieller sein, sein Schicksal ist im modernen Deutschland hingegen viel zu alltäglich. Dies nicht in einem klassischen Problemfilm, sondern in einem mitreißenden, ambitionierten, wuchtigen Kino-Epos zu zeigen, kann man Burhan Qurbani nicht hoch genug anrechnen.
Fazit: Mit seiner modernen Adaption von „Berlin Alexanderplatz“ gelingt Burhan Qurbani ein ganz großer Wurf – ein wuchtiger, greller, groß gedachter und groß bebilderter Berlin-Film, der der den Finger am Puls der Zeit hat und von der ersten, noch auf dem Kopf stehenden Einstellung an drei Stunden lang einfach nur mitreißt.
Wir haben „Berlin Alexanderplatz“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.