+++ Meinung +++
Undine, eine Sagenfigur aus dem 14. Jahrhundert, wird in einem Berliner Café der Gegenwart von ihrem Freund verlassen. So beginnt der neue Film des Wahlberliners Christian Petzold, der zuletzt schon in „Transit“ die Grenzen der Zeit verschwimmen ließ: „Transit“ spielt heute, aber die Figuren sprechen und handeln wie in der Romanvorlage von Anna Seghers, die im Zweiten Weltkrieg spielt. „Undine“ spielt ebenfalls heute, aber die Hauptfigur ist eine Nixe: Undine ist eine Sagengestalt, die jeden Mann töten muss, der sie verlässt.
Auf den ersten Blick passt Undine nicht in die heutige Zeit. Sie ist eine Männerfantasie ohne eigenen Willen, die entweder Erlösung bringt oder den Tod (zwei Funktionen, auf die sich viele Frauenrollen in der Literatur- und Filmgeschichte reduzieren lassen). In Ingeborg Bachmanns Erzählung „Undine geht“ von 1961 bekam sie endlich einen eigenen Willen und hatte keinen Bock auf die Ehe.
Eine Nixe in der Gegenwart
Petzold orientierte sich für seinen Film an dieser Erzählung. Aber der Clou von seinem „Undine“-Film besteht nicht alleine darin, dass die Nixe hier eine Frau mit eigenem Willen ist. Der Clou besteht darin, wie selbstverständlich Petzold seine Undine, gespielt von Paula Beer, durchs gegenwärtige Berlin laufen lässt.
Lange Zeit kann man im Film glauben, dass Undine überhaupt hier nur den Namen mit der Sagenfigur gemein hat. Sie arbeitet als Historikerin und Museumsführerin in Berlin. Als sie ihrem Freund Johannes (Jacob Matschenz) zu verstehen gibt, dass sie ihn töten muss, wenn er sie wirklich verlässt, glaubt er ihr nicht – und ich habe mich dabei erwischt, ihr ebenfalls nicht zu glauben.
Ob Undine den Mord begehen wird, möchte ich nicht verraten, aber so oder so lässt Petzold im Film keinen Zweifel daran, dass Undine ein Mensch mit übernatürlichen Fähigkeiten ist. Weil Petzold diese Geschichte ohne jede Ironie durchzieht, weil Paula Beer und ihr neuer Filmfreund (Franz Rogowski als Industrietaucher) ihre Liebe mit Hingabe und Verletzlichkeit spielen, fühlt sie sich komplett natürlich an.
Eine Nixe in Berlin
Es hilft außerdem der Schauplatz Berlin. Ich wohne auch dort, schon mein ganzes Leben. Als ich neulich mal wieder unter der S-Bahnbrücke Wollankstraße von Wedding in den ehemaligen Ostbezirk Pankow gelaufen bin, fiel mir nur bei einem zufälligen Blick auf eine Bodenmarkierung auf, dass ich gerade zum X-ten Mal über die ehemalige Mauergrenze spaziert bin.
In Berlin lässt sich trefflich vergessen, dass die Stadt früher geteilt war, da die Grenze an vielen Stellen aus dem Stadtbild verschwunden ist. Auch deswegen passt Petzolds „Undine“ hier so gut rein wie in keine andere deutsche Stadt: Die Sagen-Geschichte verschmilzt mit der Gegenwart einer Stadt, die selbst wieder zusammengewachsen ist.
Wobei Christian Petzold im Film sichtbar damit hadert, wie sich Berlin baulich entwickelt hat und weiter entwickelt. Wenn Undine vor Besuchergruppen die Architekturgeschichte der Stadt erklärt, wird deutlich, dass hier vieles vorne und hinten nicht zusammenpasst. Petzold selbst ist eigenem Bekunden nach kein Freund davon, die angeblich so gute alte Zeit wieder aufleben zu lassen, weder in Retrokitschfilmen, noch als Häuserfassaden wie beim rekonstruierten Berliner Stadtschloss, das demnächst eröffnet werden soll.
Seine wunderbare Frechheit besteht darin, diese Haltung im Film zu transportieren und gleichzeitig zu demonstrieren, dass das Vergangene sehr wohl mit der Gegenwart zusammenkommen kann – wenn man es halt richtig macht.
„Undine“ läuft seit 2. Juli 2020 in den deutschen Kinos.
Undine