+++ Meinung +++
Seit 16. Juli läuft „Berlin Alexanderplatz“ in den deutschen Kinos. Ein mutiger Film, der einem Literatur-Klassiker ein neues Gesicht gibt, ein mutiger Film, der den Vergleich nicht scheut mit dem gleichnamigen Meilenstein von Rainer Werner Fassbinder, ein mutiger Film, der seinem Publikum einiges abverlangt – mit einer Laufzeit von über 180 Minuten, noch mehr aber mit der rauschhaft bebilderten Universalität, mit der er das Menschsein beleuchtet.
Den Mutigen gehört die Welt. Eine Welt, die im Film von Burhan Qurbani zum Mikrokosmos wird, vom Alexanderplatz bis zur Hasenheide, eine Welt, in der Liebe und Hass, Gut und Böse zu dem großen Ganzen verschmelzen, das sie so lebenswert macht, zu dieser Naturgewalt, der man sich am liebsten entziehen würde, wenn man denn nur könnte. Aber das gehört nun mal dazu, das ist das Leben – und genau das ist auch „Berlin Alexanderplatz“.
Die Faszination Berlin
„Berlin Alexanderplatz“ hat Ecken und Kanten, viele. Der Film ist laut und zügellos, unbeherrscht und impulsiv, ganz wie die Hauptstadt selbst, wenn er sein Publikum entführt in das nächtliche Berlin, getränkt in Neonfarben und das Gefühl, nicht aus der eigenen Haut zu können – wobei einem doch gerade hier das Gefühl gegeben wird, sein zu können, wer auch immer man will. Am besten man selbst.
Manchmal ist aber gerade das schwierig. Und als Wahlberliner spreche ich aus eigener Erfahrung, wenn ich sage, dass einem die Stadt und ihre (oft selbsterkorenen) Freidenker durchaus dabei helfen können, Alteingefahrenes zu hinterfragen, eine neue und vor allem eigene Sicht auf die Dinge zu kriegen und damit letztlich vielleicht auch zu sich selbst zu finden. (Ja, aus diesem Stoff sind Glückskeks- und Kalendersprüche gemacht.)
Aber wo in der dörflichen Heimat noch blöd geguckt wird, wenn man blaue Haare hat, gerne Rosa trägt (obwohl man ein Mann ist!) oder man mit 30 weder eine Familie gegründet noch ein Haus gebaut hat, kümmert es hier eben keinen, was man aus seinem Leben macht – oder eben auch nicht.
Und was gibt’s schon Besseres, als einfach man selbst zu sein?
"Berlin Alexanderplatz": Mit Freiheit, Mut und neuer Perspektive vom Roman-Klassiker zum Leinwandepos [Interview]Es ist diese Freiheit, die man sich nur allzu leicht nehmen lässt, die einem Berlin aber tatsächlich ein Stück weit zurückgeben kann, wenn man es zulässt, diese Freiheit, der wir aber auch zu verdanken haben, dass „Berlin Alexanderplatz“ der Film ist, der er nun mal ist.
Achterbahnfahrt der Gefühle
Denn genau vor dieser Energie strotzt auch die „Berlin Alexanderplatz“-Neuauflage. Auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft und einem Weg, endlich „gut sein“ zu können, trifft Protagonist Francis (Welket Bungué) nämlich eine ganze Reihe von Entscheidungen – nicht immer die richtigen, oft aus Verzweiflung, aber stets mit dem Herz am rechten Fleck. Und das ist es doch, worauf es am Ende ankommt. Oder nicht? Darsteller Welket Bungué über „Berlin Alexanderplatz“:
Du bekommst die Schönheit der Menschen zu sehen und zu spüren – und damit meine ich nicht ihr Äußeres, sondern ihre puren Gefühle und die Energie, die sie versprühen und die du im besten Fall dann auch als Zuschauer spürst.
Einfach mal machen. Nicht alles bis ins Detail durchplanen, nicht von jeder noch so kleinen Unvorhersehbarkeit, die einem doch einen Strich durch die Rechnung machen könnte, den Wind aus den Segeln nehmen oder etwas aus Angst gar sein lassen und in Schockstarre fallen, sondern einfach mal genau das tun, was sich gerade richtig anfühlt – ganz egal, wie viel „Sinn“ das Ganze rational betrachtet macht.
Auf der Suche nach der Antwort auf die Frage, was „gut sein“ denn für mich überhaupt bedeutet, brachten mich einige Gedankenspiele jedenfalls zur Erkenntnis, dass ich keine Was-wäre-wenn-Szenarien samt unzähliger Eventualitäten zu analysieren brauche, um zu wissen, was denn nun „richtig“ ist – ganz im Gegenteil. Meistens reicht es nämlich schon, einfach dem moralischen Kompass zu folgen, das Hirn mal kurz auszuschalten und auf sein Herz zu hören.
Weniger denken, mehr fühlen. Wie falsch kann das schon sein?
Und so wird auch Francis durch den emotionalen Fleischwolf gedreht. Er erfährt Liebe und Geborgenheit, Hass und Ausbeutung, wenn er sich nach seiner Heimat ebenso sehnt wie nach einem Neuanfang. Denn es ist ein steiniger Weg dorthin, zum „Gutsein“. Doch jeder Schritt ist es wert, getan zu werden, ist besser, als auf der Stelle zu treten, denn er bringt einen vorwärts – nicht immer direkt auf direktem Weg ans gewünschte Ziel und oft sogar gar nicht. Stattdessen landet man am Ende dort, wo man sich am wohlsten fühlt, wo man eigentlich schon immer hin wollte, ohne dass man es wusste.
Es ist nur der berüchtigte nächste Schritt, mit dem einem zwar immer auch was „passieren“ kann, ohne den aber eben überhaupt nichts „passiert“ – und wenn ich genau dafür in Zukunft mal wieder einen Schupser brauchen sollte, wird „Berlin Alexanderplatz“ ihn mir geben.
Kino, das bewegt
Wenn ich vor meinem Filmregal stehe und mal wieder nicht weiß, was ich gucken soll, geht’s mir meist nicht um Darsteller, Story oder Genre, sondern bloß um zwei simple Fragen: „Wie fühle ich mich gerade?“ und „Wie würde ich mich gerne fühlen?“
Will ich mal wieder Kind sein, landet „Jurassic Park“ im Player, brauche ich mal wieder Inspiration, um meine nächste Reise zu planen, muss es „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ sein. Und jetzt bekommt auch Burhan Qurbanis Film eine eigene Gefühlslage zugeteilt:
Wenn mal wieder alles schiefgeht, ich auf nichts und niemanden Bock hab’ und mir mal wieder denke, wo mein Platz in diesem Leben überhaupt ist, dann ist’s mal wieder Zeit für „Berlin Alexanderplatz“, der mich daran erinnert, dass es sich lohnt, für all die Höhen im Leben auch die Tiefen in Kauf zu nehmen – denn das gehört nun mal zum Leben dazu.
Ich freue mich noch auf eine Reihe von Filmen, die noch im Jahr 2020 erscheinen (sollen) – von „Tenet“ über „Dune“ bis „Keine Zeit zu sterben“. Einen Film, der aber so rauschhaft inszeniert ist, dass sogar drei Stunden wie im Flug vergehen, und der mich auf so vielen Ebenen berührt, mich über mich selbst und meine Vorstellung vom Leben nachdenken lässt, gibt's jedoch höchstens alle paar Jahre. Für mich steht darum schon jetzt fest:
„Berlin Alexanderplatz“ ist das Kinoerlebnis des Jahres.