So gut wie jeder hat von „Berlin Alexanderplatz“ schon mal gehört und spätestens seit der Serien-Adaption von Kinolegende Rainer Werner Fassbinder aus den 80ern auch ein genaues Bild von Protagonist Franz Biberkopf.
Regisseur Burhan Qurbani („Wir sind jung. Wir sind stark.“) hat sich mit seinem „Berlin Alexanderplatz“ 40 Jahre später aber nicht einfach nur eine Neuerzählung vorgenommen, sondern die Geschichte der Roman-Vorlage aus den 1920ern* mit jeder Menge neuer Impulse ins 21. Jahrhundert verfrachtet. Und so ist es in der 2020er-Adaption nicht etwa der deutsche Ex-Sträfling Franz Biberkopf, der seinen Platz in einer ihm fremden Gesellschaft sucht, sondern der afrikanische Flüchtling Francis (Welket Bungué).
Qurbani hat gewagt und gewonnen mit seinem über drei Stunden langen, regelrecht berauschenden Großstadt-Epos, wie es auch in unserer 4,5-Sterne-Kritik zum Film heißt. Aber was gehört eigentlich dazu, eine im Kern allseits bekannte Geschichte zu erzählen und gleichzeitig etwas völlig Neues daraus zu machen? Wir haben die beiden Hauptdarsteller Welket Bungué („Letters From War“) und Jella Haase („Fack Ju Göhte“) zum Interview getroffen und über ihren Film gesprochen...
"Berlin Alexanderplatz": Was zur Hölle!
FILMSTARTS: Was zur Hölle! Ihr bekommt bei Interviews ja sicher öfter gesagt, dass euer Film gut ist, aber mal ehrlich: Was zur Hölle! Ich verarbeite „Berlin Alexanderplatz“ immer noch…
Jella Haase: Wow, sehr ehrlich. So eine Reaktion wie deine gerade ist wirklich das Beste, was uns passieren kann.
FILMSTARTS: Ich kann mich auf die Schnelle wirklich nicht daran erinnern, wann zuletzt für mich drei Stunden so schnell vergingen…
Jella Haase: Yes!
Welket Bungué: Yes!
(Die beiden heben jubelnd die Hände und klatschen ein.)
Die Rolle der übergroßen Vorlage
FILMSTARTS: Was war euer Bezug zu „Berlin Alexanderplatz“ bevor ihr Teil der Neuverfilmung wurdet?
Welket Bungué: Ich hatte davor noch nie davon gehört, es war für mich also etwas komplett Neues. Ich hatte schon ein paar Filme von Fassbinder gesehen und fand es interessant, eine Geschichte neu interpretieren zu können, die auch er schon erzählte.
Jella Haase: Ich habe davor das Buch gelesen und auch in die Fassbinder-Adaption reingeschaut, wollte mich aber nicht zu sehr davon beeinflussen lassen. Es war für mich besonders spannend, diese klassische Geschichte in die heutige Zeit zu bringen, dabei mit den gesellschaftlichen Problemen von heute konfrontiert zu werden und so auch eine neue Perspektive zu erschaffen. Darin steckt für mich die Kraft der Geschichte.
FILMSTARTS: Hilft es bei einer Neuverfilmung, sich genau mit der Vorlage oder vorherigen Adaptionen zu befassen oder schränkt das einen eher ein, weil man sich dann vielleicht zu sehr daran orientiert, anstatt etwas Eigenes aus den Figuren und der Geschichte zu machen?
Welket Bungué: Ich habe wirklich nur Teile des Buches gelesen und ein paar Folgen der Fernsehserie gesehen. Das genügte mir, um zu wissen, wo ich mit der Figur hin wollte. Immerhin sollte es keine Kopie werden, sondern eine Adaption, hinter der eine neue, moderne Vision steht. Die Kernthemen des Romans sind in unserem Film genauso vorhanden, wurden dafür aber erneuert – und auch visuell und musikalisch verarbeitet, was „Berlin Alexanderplatz“ zu einem ganz eigenen Mikrokosmos macht.
Die Chance, Neues zu erschaffen
FILMSTARTS: Rainer Werner Fassbinder ist eine der größten deutschen Filmlegenden überhaupt und Franz Biberkopf ist eine allseits bekannte Figur aus einer allseits bekannten Geschichte. Spürt man da besonders viel Druck?
Welket Bungué: Nein, diese Bedenken zu Fassbinders Image oder Erbe hatten wir nicht. Er ist nicht mehr hier. Aber wir haben nun die Chance, etwas Neues daraus zu machen, das in unsere Zeit passt – und das ist großartig.
Jella Haase: Ich denke auch nicht, dass es diesen Druck wirklich gab. Für mich war es zwar wichtig, das Buch zu lesen, es zu verstehen und mich darin fallen zu lassen, allerdings nur, um mich danach völlig frei davon zu machen und die Geschichte neu zu erschaffen. Diese Freiheit der Neuinterpretation ist wahnsinnig wichtig – und ich glaube, die fühlten wir alle.
FILMSTARTS: Du bist gerade erst nach Berlin gezogen und nimmst die Stadt sicherlich ganz anders wahr als zum Beispiel Jella als gebürtige Berlinerin. Siehst du Berlin so, wie die Stadt im Film präsentiert wird?
Welket Bungué: Natürlich nicht. „Berlin Alexanderplatz“ spielt in einem Rahmen, der auf der Wahrnehmung des Autors [und Regisseurs] Burhan Qurbani basiert. Es gibt unendlich viele Dinge, die für uns als Bürger [Berlins] wichtig sind, die man aber nie in einen Film bekommen kann. Also muss man Entscheidungen treffen und Prioritäten setzen.
Es ging vor allem darum, einen Mikrokosmos zu erschaffen, in dem die Figuren und auch die Zuschauer frei sind – frei, sich selbst zu betrachten, aber auch frei, über die Machtstrukturen in unserer Gesellschaft zu reflektieren und sich zu fragen: Wer sind die Privilegierten, wer die Benachteiligten und wie wird überhaupt darüber entschieden?
Die Sache mit dem "Gut sein"
FILMSTARTS: „Berlin Alexanderplatz“ schneidet viele dieser gesellschaftlichen Themen an, dreht sich im Kern allerdings vor allem um eine Frage: Wie kann ich gut sein? Was gehört für euch zum „Gut sein“?
Jella Haase: Zuerst muss man sich dafür mal mit der Frage auseinandersetzen, was das für einen persönlich überhaupt heißt, „gut sein“. Ich glaube, für mich beginnt das mit Disziplin, mit ganz kleinen Dingen, für die man Verantwortung übernimmt – etwa fürs Klima. Oder: Ich habe zum Beispiel aufgehört, Zigarettenstummel auf den Boden zu werfen. Da beginnt es schon. Aber es ist auch ein Prozess, jeden Tag aufs Neue. Gleichzeitig bedeutet „gut sein“ für mich aber auch, mit sich selbst im Reinen zu sein und sich mit Menschen zu umgeben, die man liebt, die einen zurück auf den Boden holen. Dann fühle ich mich „gut“.
Welket Bungué: Für mich bedeutet „gut sein“ auch, nicht einfach das zu werden, wohin einen die Gesellschaft vielleicht drängt. „Gut sein“ heißt für mich, ich selbst sein.
Jella Haase: Und genau diese Freiheit, die Freiheit, du selbst sein zu können, gibt dir eben auch Berlin.
FILMSTARTS: Absolut. Genau das spüre ich auch, seit ich in Berlin lebe. Und das habe ich auch in eurem Film gespürt – drei ganze Stunden lang. Vermisst ihr im finalen Film eigentlich Szenen, die ihr gerne drin gehabt hättet?
Welket Bungué: Ich glaube, drei Stunden sind genug, oder nicht? [lacht]
Große Emotionen brauchen Zeit...
FILMSTARTS: Von mir aus hätte er auch noch eine vierte Stunde gehen können…
Jella Haase: Ich finde, der Film fühlt sich aber auch nicht so lange an, auch wegen der Teilung in mehrere Kapitel. Außerdem fiel mir bei der Premiere auf, dass der Film auf der großen Leinwand gefühlt viel schneller ist. Es ist wirklich erstaunlich, welche Auswirkungen die Leinwand darauf haben kann, wie man einen Film wahrnimmt – und „Berlin Alexanderplatz“ profitiert auf jeden Fall vom Kinoerlebnis.
FILMSTARTS: Für mich war jede einzelne Minute des Films pure Energie, aber das weiß man vor dem Film eben noch nicht. 180 Minuten sind sehr lange, da muss man die Zuschauer erst einmal ins Kino kriegen. Seht ihr die Laufzeit auch als eine Art Vertrauensbeweis für den Film, dass Burhan Qurbani unbedingt seine Vision umsetzen wollte, auch wenn sie (laufzeittechnisch) aus dem Rahmen fällt?
Welket Bungué: Auf jeden Fall. Ich meine, schau’ dir Filme wie „Inception“ oder „Interstellar“ an. Die gehen auch fast drei Stunden, aber das ist kein Problem, weil sie es wert sind. Oder wenn man an Bollywood-Filme denkt: Die gehen auch sehr lange, weil sie eben das Komplettpaket der darstellenden Künste liefern – mit Tanz, Interpretation und so weiter –, damit sich die Energie einer Geschichte entfalten kann.
Jella Haase: Es braucht einfach Zeit, echte Emotionen aufzubauen, sie zu fühlen und sie schließlich weiterentwickeln oder sterben zu lassen.
Welket Bungué: Man sollte den Film als eine Art Erlösung sehen. Du opferst immerhin drei Stunden deiner Zeit, in denen du nicht sprechen musst, keine Position, keinen bestimmten Glauben vertreten musst. Stattdessen bekommst du die Schönheit der Menschen zu sehen und zu spüren – und damit meine ich nicht ihr Äußeres, sondern ihre puren Gefühle und die Energie, die sie versprühen und die du im besten Fall dann auch als Zuschauer spürst.
„Berlin Alexanderplatz“ läuft ab dem heutigen 16. Juli 2020 im Kino.
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