„Können wir mal zusammen essen gehen?“
aus „Manchester By The Sea“
Lieblingsszene von Carsten Baumgardt
Meine Lieblingsszene 2017 stammt konsequenterweise auch aus meinem Lieblingsfilm des Jahres: aus Kenneth Lonergans markerschütterndem Drama „Manchester By The Sea“. Lee Chandler (Casey Affleck) und seine Frau Randi (Michelle Williams) haben ihre drei Kinder bei einem verheerenden Hausbrand verloren, den Lee angetrunken verursacht hat. Die Tragödie pulverisierte anschließend ihre Ehe. Nachdem Lee nun vorübergehend aus seinem Exil in Boston zurück in die Heimatstadt Manchester-by-the-sea zieht, um sich nach dem Tod seines Bruders Joe (Kyle Chandler) eher widerwillig um dessen Sohn Patrick (Lucas Hedges) zu kümmern, trifft er Randi gelegentlich wieder.
Eine dieser Begegnungen findet relativ spät im Film statt. Randi ist mit ihrem Baby Dylan im Kinderwagen unterwegs und läuft an einer Straßenecke in Lee. In die folgenden denkwürdigen dreieinhalb Minuten packt Regisseur Lonergan die ganzen aufgestauten Emotionen, die sich zwischen den beiden über die Zeit zu einer toxischen Masse verfestigt haben und lässt ihnen herzzerreißend und entwaffnend offen freien Lauf - ohne dass die Protagonisten in die üblichen Wutausbrüche oder Heulkrämpfe verfallen.
Herzzerreißendes Drama in gedämpften Tönen
Alles spielt sich in vielmehr in kleinen Gesten und in gemäßigtem Ton ab, selbst als Randi zu weinen beginnt. Man leidet förmlich mit ihnen, wie sie sich schmerzhaft winden und fast wortlos quälen - zwischen der unerträglichen Schuld, die Lee auf sich geladen hat und Randis verzweifeltem Wunsch, trotz allem etwas Zeit mit ihrem immer noch geliebten Ex-Mann zu verbringen. Der lehnt ihre schüchterne Frage nach einem gemeinsamen Essen jedoch letztlich ab, weil er glaubt, dass ihm kein Funken Glück mehr zusteht. Er will nur noch ohne weitere Fehler zu machen durchs Leben kommen. Mehr nicht.
Casey Affleck hat seinen Oscar mehr als verdient! Und Michelle Williams ist zwar nur in wenigen Szenen zu sehen, aber allein ihr Auftritt in diesen bewegenden paar Minuten auf der Straße mit Kinderwagen ist schon preiswürdig. Eine tieftraurige, geradezu quälende Szene, die von Weisheit und Wahrhaftigkeit durchdrungen ist und damit exemplarisch für den ganzen Film stehen kann.