Lange rätselt Clay Jensen (Dylan Minette) in „Tote Mädchen lügen nicht“, warum Hannah Baker (Katherine Langford) ihm eine Kassette gewidmet haben sollte. Auf sieben Tapes legt das Mädchen in 13 Kapiteln dar, warum es sich umgebracht hat. Dem Zuschauer dürfte nach einigen Folgen klar sein, in welche Richtung sich die Serie bezüglich Clays „Reason Why“ bewegt, doch tatsächlich könnte man bereits in der allerersten Szene im Soundtrack eine Textzeile entdecken, die dem später erfolgenden Schuldeingeständnis Clays verblüffend ähnelt. Und nicht nur das: Auch Hannah Bakers Selbstmord-Entscheidung kommentiert der betreffende Song im Kontext.
Achtung Spoiler!
„Tote Mädchen lügen nicht“ beginnt mit einem Shot auf Hannah Bakers Highschool-Schließfach. Aus dem Off ertönt der Anfang der Suizid-Tapes, während im Hintergrund Colin & Carolines Song „More Than Gravity“ läuft. Dabei ergänzen sich Hannahs Worte (in kursiv) im Hinblick auf die Serienhandlung erstaunlich gut mit denen des Songs (in fett). In dieser Reihenfolge sind sie in besagter Szene zu hören: „Hey, it’s Hannah – Hannah Baker / There’s not a simple explanation for the things that I feel / Don’t adjust your ... whatever device you’re hearing this / There's no one word to tell you why I do the things that I do / It’s me – live and in stereo.“
Stellt man Hannahs Zeilen denen des Songs voran, ergibt sich übersetzt also folgendes: „Hey, hier ist Hannah Baker. Mit deinem Abspielgerät ist alles in Ordnung. Ich bins – live und in Stereo. Es gibt keine einfache Erklärung dafür, was ich fühle. Was ich tue, lässt sich nicht mit nur einem Wort beschreiben.“ In der Tat ist die Erklärung für die Taten Hannahs (von denen die letzte ihr Freitod ist), die im Folgenden vor dem Zuschauer ausgebreitet, alles andere als simpel – immerhin werden dafür knapp 13 Serienstunden gebraucht.
Hannahs Vorstellung ist damit erst einmal abgeschlossen, nun kommt Clay ins Spiel. Im Moment, in dem die Kamera ihn erfasst, singt Colin gerade: „I can’t love you, I’m too scared to“, frei übersetzt: „Ich kann dich nicht lieben, weil ich zu schüchtern bin.“ In der letzten Episode äußert sich Clay wiefolgt gegenüber Schulpsychologe Mr. Porter (Derek Luke): „Ich kostete sie ihr Leben, weil ich mich nicht getraut hab‘, ihr meine Liebe zu schenken.“ Zu dieser Erkenntnis kam Clay, nachdem er auf Kassette 6, Seite A den von Hannah ihm gewidmeten „Reason Why“ gehört hat. Zwar spricht ihn Hannah selbst von einer Mitschuld frei, an den Vorwürfen, die Clay sich deswegen macht, ändert dies jedoch nichts.
Dass die Beziehung zwischen Hannah und Clay später romantische Züge annehmen würde, dürfte dem Zuschauer allein durch Betrachtung der Eröffnungsszene klar sein. Der sichtlich desillusionierte Clay sieht die verstorbene Hannah noch immer im Schulgang stehen bzw. erinnert sich an eine solche Situation.
Während dies gezeigt wird, nimmt der Song erneut die Beschaffenheit dieser Beziehung aus Clays Sicht – der zum Zeitpunkt dieser Szene ja noch nichts von seiner „Schuld“ weiß, vielleicht aber unterbewusst ahnt – weiter vorweg, diesmal darauf bezogen, dass Clay sich selbst im Weg stand und sich im Nachhinein wünscht, anders gehandelt zu haben: „And I spent so much time fighting the man that I am trying to be“ – „Ich habe so viel Zeit damit verbracht, den Mann zu bekämpfen, der ich versucht habe zu sein.“
Im Hinblick auf die ganze Serie lässt sich diese Zeile besonders auf eine Szene in der elften Folge (hier wird Clays Tape behandelt) anwenden, die eine Alternativrealität zeigt, in der Clay Hannah seine Liebe gesteht. Diese wurde freilich nie Wirklichkeit, sodass Clay im Jetzt der Serieneröffnung nichts bleibt, als Hannahs Bild am Erinnerungsschrein ihres Schließfachs zu betrachten.
Bevor die eigentliche Handlung von „Tote Mädchen lügen nicht“ beginnt, sind damit bereits zentrale Motive der Serie angelegt, die später wieder aufgegriffen werden. So schufen die Macher eine Klammer zwischen erster und letzter Episode – denn was „More Than Gravity“ in Kombination mit der Charaktereinführung Hannahs und Clays andeutet, wird in Folge 13 schließlich verbalisiert (Clays Schuld) bzw. explizit dargestellt (Hannahs „Tat“, der Suizid).
„Tote Mädchen lügen nicht“ ist seit 31. März 2017 auf Netflix verfügbar. Die Serie löste aufgrund ihrer schwierigen Thematik hitzige Diskussionen aus, die teils sogar zu nachträglichen Jugendschutzmaßnahmen führten. Man ist sich uneins, ob durch die teils drastische Darstellungsweise der Serie und die vielen aufgeworfenen, aber nur selten beantworteten Fragen das Selbstmordrisiko bei gefährdeten Jugendlichen eher noch erhöht werden könnte, anstatt – wie von den Verantwortlichen intendiert – zur Prävention aufrüttelt. Inzwischen kündigte Netflix an, entsprechende Warnhinweise zu verstärken.
Auch wir weisen darauf hin, dass Suizid kein Ausweg ist. Wenn deine Gedanken darum kreisen, dir das Leben zu nehmen, dann empfehlen wir dringend, dass du das Gespräch mit anderen Menschen suchst. Sprich mit deiner Familie oder deinen Freunden, einem Arzt oder Psychologen oder mit einer anderen Vertrauensperson darüber. Wenn du anonym bleiben willst, dann gibt es mehrere Angebote der TelefonSeelsorge, die nicht nur kostenfrei, sondern auch absolut vertraulich sind (und zum Beispiel auch nicht auf der Telefonrechnung auftauchen). Unter den Nummern 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 wird dir geholfen. Alternativ kann man sich auf der Webseite der TelefonSeelsorge auch einen Chattermin vereinbaren oder die Mailberatung in Anspruch nehmen. Auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention gibt es zudem eine Übersicht über weitere Beratungsstellen.