In der starke 4 von 5 möglichen Sternen vergebenden FILMSTARTS-Kritik zu „Emilia Perez“ nennt unser Autor Michael Meyns das Werk „ein Erlebnis“. Es geht um einen mächtigen, mexikanischen Gangsterboss, der endlich die Frau sein will, als die er sich schon immer fühlte, die er aufgrund seiner Situation aber bisher nicht sein konnte. Die junge Anwältin Rita (Zoe Saldaña) soll sein neues Leben arrangieren, in dem aus dem brutalen Manitas (Karla Sofía Gascón) die mit den Drogenmillionen nun Gutes tuende Emilia wird. Und das, ohne dass Manitas' Ehefrau Jessi (Selena Gomez) oder die gemeinsamen Kinder etwas davon erfahren.
Was für eine Story. Was für ein Film. Die meiste Zeit merken wir dem von Jacques Audiard („Ein Prophet“, „Der Geschmack von Rost und Knochen“) geschriebenen und inszenierten „Emilia Perez“ gar nicht an, dass wir ein Musical schauen – so spannend ist die Handlung, so faszinierend sind die sich darin bewegenden Figuren. Und dann erwischt man sich plötzlich doch dabei, wie man das eine oder andere der unverschämt eingängigen, dennoch geschickt und mit schierer Kraft das Geschehen voranbringenden Lieder mitsingt. Selbst dann, wenn man gar kein Spanisch kann.
Spanisch beherrscht der Schöpfer des Ganzen übrigens ebenfalls nicht, wie er uns im Interview verriet. Und Musicals mag er kurioserweise schon gar nicht. Wir trafen den Regisseur im Rahmen des Filmfests Hamburg, wo das Leinwandjuwel seine Deutschlandpremiere feierte. „Emilia Perez“ startet bundesweit am heutigen 28. November 2024 in den deutschen Kinos.
FILMSTARTS: Jacques, lassen Sie uns zu Beginn doch einfach mal wissen, welches Ihre liebsten Kinomusicals sind.
Jacques Audiard: Uh, da haben Sie mich gleich kalt erwischt. (lacht etwas verlegen) Ich bin kein großer Fan des Genres. Ich muss sogar gestehen, dass ich deshalb gar nicht so viele Musicals kenne. Und die allermeisten, die ich gesehen habe, mochte ich nicht besonders. Okay, Bob Fosses „Cabaret“ finde ich natürlich großartig. Und sein „Hinter dem Rampenlicht“ ist ebenfalls ein wunderbarer Film. Vielleicht noch „Die Dreigroschenoper“ von Wolfgang Staudte? Das war es aber auch schon, fürchte ich. Vielleicht fällt mir während unseres Gesprächs noch ein anderes Musical ein, aber im Moment ist da in meinem Kopf rein gar nichts mehr.
FILMSTARTS: Musicals sind also offenbar nicht wirklich Ihr Ding. Wie kamen Sie dann überhaupt darauf, mit „Emilia Perez“ einen solchen Film drehen zu wollen? Mögen Sie es, sich selbst zu quälen?
Jacques Audiard: Ja, durchaus. Zumindest, wenn es darum geht, mir kreative Aufgaben zu stellen. Dass „Emilia Perez“ ein Musical geworden ist, hat sich allerdings primär aus der Struktur des Drehbuchs ergeben. Ursprünglich sollte es ein klassisches Thrillerdrama werden, basierend auf Teilen des Romans „Écoute“* meines Freundes Boris Razon. Aber irgendwann bemerkte ich, dass der Aufbau und die Stimmungen doch sehr einem Libretto ähnelten – also einem Bühnenskript für Opern oder eben Musicals. Der Ablauf war in Akte unterteilt, die an nur wenigen Schauplätzen spielten. Und auch die Hauptfiguren entsprachen eher sehr theaterhaften Archetypen. Ich schrieb weiter am Drehbuch und ohne dass ich es selbst forcierte, entwickelte es sich immer mehr in diese Richtung. Anstatt mich dagegen zu wehren, habe ich es akzeptiert und dann tatsächlich bewusst so weitergemacht.
FILMSTARTS: Wann haben Sie begonnen, sich über die Songs Gedanken zu machen? Die sind ja essenziell für ein Musical.
Jacques Audiard: Exakt. Und genau deshalb habe ich auch sofort, als ich selbst wusste, dass es ein Musical werden würde, herumgefragt, wer als Komponist in Frage käme. Ein befreundeter Produzent empfahl mir, mich mit Clément Ducol zu treffen, was ich umgehend tat. Wir waren uns schnell einig, zumal sich uns seine Lebensgefährtin Camille, die in Frankreich eine sehr populäre Chansonniere ist, als Songtexterin anschloss. Wir mieteten uns ein Häuschen auf dem Lande, sprachen einige Wochen sehr intensiv miteinander über alles und probierten auch schon erste Ideen aus. Clément und Camille waren dann später bei den entsprechenden Szenen am Set dabei und haben dort sehr wichtige Beiträge geleistet.
FILMSTARTS: Sie wollten zunächst an authentischen Locations in Mexiko drehen, haben sich dann aber doch entschieden, alles auf einer riesigen Studio-Soundstage in der Nähe von Paris zu realisieren. Warum?
Jacques Audiard: Es ging dabei um eine Art von Kontrolle über die Umgebung. Wir brauchten wegen der Gesangs- und der teilweise sehr breitwandig choreografierten Tanzszenen eine Menge Platz, aber auch Abgeschiedenheit sowie Schutz vor Wind, Wetter und anderen Einflüssen. Autoverkehr, Flugzeuglärm, ins Bild laufende Schaulustige und so weiter wären bei Außenaufnahmen an all den Orten, die wir gescoutet hatten, kaum zu vermeiden gewesen – was alles enorm Zeit und damit Unsummen an Geld kostet. Diese Probleme hat man in einem schallisolierten Studio nicht. Dort schafft man sich seine eigene Kulisse, seine eigenen Geräusche und seine eigene Atmosphäre – so wie in einem Theater. Auf diese Weise konnten wir auch das Gefühl einer Hyperrealität erzeugen, in der es ganz normal ist, dass eben noch geschossen und gemordet, dann plötzlich getanzt und gesungen wird. In realen Locations wäre das schwerlich möglich gewesen.
FILMSTARTS: Sie haben mit Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez und auch Adriana Paz vier umwerfende Hauptdarstellerinnen …
Jacques Audiard: Ja, sie sind traumhaft, nicht wahr?
FILMSTARTS: Hat es lange gedauert, die Parts zu besetzen?
Jacques Audiard: Zunächst schien es unmöglich – bis auf Selena Gomez. Dass sie die Rolle der Ehefrau spielen würde, war von Anfang an klar. Sie war die Erste, die gecastet wurde, direkt nachdem ich sie zu einem Gespräch in New York getroffen hatte. Selena ist eine brillante Sängerin, eine fantastische Tänzerin und besitzt dazu immenses Charisma vor der Kamera. Die passenden Schauspielerinnen für die anderen drei Rollen zu finden, gestaltete sich dagegen deutlich schwieriger. Wir trafen uns mit unzähligen Kandidatinnen, aber die Richtigen waren einfach nicht dabei. Da realisierte ich, dass ich diese drei Parts allesamt viel zu jung geschrieben hatte. Ich machte sie durch die Bank zehn bis 15 Jahre älter und auf einmal war es ganz einfach. Fast in Rekordzeit hatten wir die komplette Besetzung beisammen.
FILMSTARTS: Wann und warum fiel die Entscheidung, den Film auf Spanisch zu drehen und nicht auf Französisch oder vielleicht auf Englisch?
Jacques Audiard: Es war von Anfang an klar, dass wir primär auf Spanisch drehen würden. Es gibt da zwar ein paar Szenen, die in Großbritannien, Israel, Thailand und in den Schweizer Alpen angesiedelt sind, wo dann auch mal kurz Englisch beziehungsweise Französisch gesprochen wird. Die Handlung findet allerdings größtenteils in Mexiko statt und dort sprechen die Menschen eben Spanisch. Es wäre falsch und geradezu töricht, einen dort spielenden Film in einer anderen Sprache zu drehen. Denken Sie nur an (beginnt übertrieben pathetisch zu singen und zu gestikulieren) „Don't cry for me, Argentina …“ – das war doch absolut lächerlich.
FILMSTARTS: Wie gut ist denn Ihr eigenes Spanisch?
Jacques Audiard: Mein Spanisch ist nonexistent. (lacht)
FILMSTARTS: Und welche Sprache wurde dann am Set gesprochen?
Jacques Audiard: Wir haben auf alle möglichen Arten kommuniziert. Mit Blicken und Gesten, mit Bildern und kleinen Zeichnungen oder einfach mit Musik. Ich beherrsche zudem ein wenig Englisch. Und wenn auch damit nichts mehr ging, haben Zoe, Karla oder Selena für mich ins Spanische übersetzt und andersherum. Mindestens eine von ihnen war ja immer am Set.
FILMSTARTS: Wird es „Emilia Perez“ irgendwann als Bühnenmusical geben? Würde Sie das interessieren?
Jacques Audiard: Es gibt tatsächlich Pläne, den Film für die Bühne zu adaptieren. Ich weiß aber nichts Näheres darüber, denn daran werde ich nicht beteiligt sein, weil ich einfach nicht die Zeit habe. Ich möchte noch ein paar Filme machen und da ich nicht jünger werde, muss ich mich diesbezüglich ranhalten.
FILMSTARTS: Apropos: Ich habe gelesen, dass Sie, wenn einer Ihrer Filme Premiere feiert, sich bereits mitten in den Vorbereitungen für den nächsten befänden. Verraten Sie uns, woran Sie aktuell arbeiten und was uns in unmittelbarer Zukunft von Ihnen erwartet?
Jacques Audiard: Das weiß ich zum ersten Mal, seit ich begonnen habe Filme zu machen, selbst nicht. Die Pandemie hat mir da meinen Ablauf durchkreuzt. Denn der Titel, der nach „Emilia Perez“ kommen sollte, ist bereits fertig und erschienen. Es handelt sich dabei um „Wo in Paris die Sonne aufgeht“, den ich vorgezogen habe, weil ich ihn mit vergleichsweise deutlich geringerem Aufwand während der Lockdowns drehen konnte. Die teilweise menschenleeren Straßen haben dabei sogar geholfen.
Was nun als Nächstes kommt, weiß ich nicht. Ich habe auch keine Ruhe, mir darüber ernsthafte Gedanken zu machen. Schließlich bin ich mindestens bis Ende 2024 damit beschäftigt, „Emilia Perez“ zu promoten. Nach Europa fliege ich dafür nach Nordamerika, wo der Film ein Netflix-Original ist. Und falls er gut genug ankommt, wonach es aktuell erfreulicherweise aussieht, ist dann die Awards-Saison schon im vollen Gange, die bekanntlich im März mit den Oscars endet (lächelt). Vielleicht kommt mir ja in Amerika eine Idee für mein nächstes Projekt.
FILMSTARTS: Da wünschen wir viel Erfolg – sowohl bei den anstehenden Preisverleihungen als auch bei der Suche nach dem nächsten Thema. Dass Sie kein großer Fan von „Evita“ sind, haben wir eben ja bereits etabliert. Ist Ihnen zum Abschluss vielleicht doch noch ein weiteres Filmmusical eingefallen, das Sie mögen?
Jacques Audiard: Nein. Es gibt wohl wirklich keines mehr, das mir gefällt. (lacht)
„Emilia Perez“ läuft ab sofort in den deutschen Kinos. Nachfolgend haben wir auch noch einmal den Trailer für euch:
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