1985 setzte sich bei der Oscar-Verleihung ein Arzt aus Kambodscha als Bester Nebendarsteller gegen u.a. John Malkovich und „Karate Kid“-Star Pat Morita durch – und schrieb damit als erster asiatischstämmiger Preisträger in dieser Kategorie Geschichte. Die Rede ist von Haing S. Ngor, der im Kriegsdrama „The Killing Fields“ den Journalisten Dith Pran verkörperte, der gemeinsam mit einem US-amerikanischen Reporter (Sam Waterston) nach dem Ende des Vietnamkriegs in die Fänge der Roten Khmer gerät. Mit Sicherheit keine einfache Rolle für den Schauspieler – schließlich erlebte er die Schreckensherrschaft der kommunistisch-nationalistischen Guerillaorganisation am eigenen Leibe...
Der 1940 in Kambodscha geborene Haing S. Ngor spezialisierte sich als Arzt auf Geburtshilfe und Gynäkologie. Doch mit seinem so friedlichen wie wohlhabenden Leben in der Hauptstadt Phnom Penh war es schlagartig vorbei, als die Roten Khmer unter der Führung des Diktators Pol Pot die kambodschanische Regierung stürzten und durch ein Terrorregime ersetzten. Neben Millionen weiterer Bürger*innen wurden auch Ngor und seine Familie aufs Land umgesiedelt und in ein Zwangsarbeitslager gesteckt. Dort kam seine Frau Chang My Huoy bei der Geburt ihres Kindes ums Leben, während Ngor über Jahre hinweg Folter und Hunger ertragen musste.
Erst als das Regime Ende der 1970er-Jahre zusammenbrach, gelang es ihm, gemeinsam mit seiner Nichte (deren Eltern ebenfalls getötet wurden) nach Thailand zu flüchten – und schließlich in die USA zu emigrieren. In Los Angeles arbeitete er daraufhin nicht nur als Helfer und Berater für andere Geflüchtete, sondern machte bei einer Hochzeit auch die Bekanntschaft von Pat Golden.
Die Casting-Direktorin befand sich gerade auf der Suche nach Darsteller*innen für einen Film, der sich mit dem Genozid in Kambodscha auseinandersetzte, bei dem 30 Prozent der gesamten Bevölkerung von den Roten Khmer ermordet wurden. Sie erkannte sofort, dass Ngor „ein angeborenes Talent zum Schauspielern“ habe (via AlloCiné) – und nachdem er aufgrund seines eigenen Traumas anfangs zögerte, willigte er schließlich doch ein, für die Dreharbeiten von „The Killing Fields“ nach Thailand zu reisen, bot sich mit dem Film doch eine Gelegenheit, dem Thema größere Aufmerksamkeit zu verschaffen...
In einem Interview mit dem Hollywood Reporter sagte Regisseur Roland Joffé: „Er war sehr mutig. [Diese Rolle] zu spielen bedeutete für ihn, seine Seele zu geben – und das hat er getan.“ Seine Bereitschaft, sich für den Dreh des vielgelobten Antikriegsfilms (der auch in der offiziellen 4,5-Sterne-Kritik auf FILMSTARTS als „Meisterwerk“ bezeichnet wird) dem Grauen zu stellen, das er nur einige Jahre zuvor selbst erleben musste, sollte sich auszahlen.
Bei sieben Oscar-Nominierungen (u.a. Bester Film) konnte „The Killing Fields“ drei Statuen gewinnen, wobei neben der Kamera und dem Schnitt auch Ngor ausgezeichnet wurde. Auf dem Weg zur Zeremonie in Los Angeles im Stau stecken geblieben, kam Ngor in letzter Minute im Dorothy Chandler Pavilion an – und hielt eine bewegende Dankesrede, bei der er mit den Worten „Ich habe das für dich gemacht“ den Academy Award an seine Nichte Sophia Ngor Demetri überreichte. Hier könnt ihr euch die Preisvergabe in voller Länge ansehen:
Haing S. Ngor trat in den darauffolgenden Jahren noch in vereinzelten weiteren Filmen als Schauspieler in Erscheinung (u.a. im Kriegsfilm „P.O.W. – Prisoners Of War“ sowie an der Seite von Michael Keaton und Nicole Kidman im Drama „Mein Leben für dich“). Vor allem aber nutzte er seine Bekanntheit, um sich für die Aufklärung über den kambodschanischen Völkermord einzusetzen.
Das tat er bis zum 25. Februar 1996 – jenem Tag, an dem sein Leben im Alter von nur 55 Jahren ein viel zu frühes Ende fand. Ngor wurde vor seinem Haus in Los Angeles von drei Teenagern erschossen, offiziell das Ergebnis eines missglückten Einbruchsversuchs. Doch es kursieren noch weitere mögliche Erklärungen für den Mord. Schließlich hätten die Täter ohne Weiteres die Chance gehabt, zumindest den Mercedes ihres Opfers sowie mehrere Tausend Dollar Bargeld zu stehlen, die Ngor bei sich hatte – stattdessen verließen sie den Tatort mit leeren Händen.
Zudem führte Ngor aufgrund seines lautstarken Aktivismus ohnehin ein gefährliches Leben. Es besteht also durchaus die Option, dass der Mord an ihm politisch motiviert oder sogar von ehemaligen Mitgliedern der Roten Khmer angeordnet worden war. Dieser These schloss sich im Interview mit Vice u.a. auch der Regisseur Arthur Dong an (der 2015 einen Dokumentarfilm über den Vorfall drehte), indem er auf Aussagen von Kaing Guek Eav verwies, der in Kambodscha ein Foltergefängnis leitete – und behauptete, dass ehemalige Mitglieder der Roten Khmer für die Tötung von Haing S. Ngor verantwortlich seien.
Auch Ngors Nichte unterstützt diese Version: „Ich hatte immer Angst um ihn, weil er frei über Kambodscha sprach“, so Ngor Demetri gegenüber dem Hollywood Reporter (via Collider). „Es war nicht sicher, aber das war ihm egal. Er wollte nur den Menschen in seinem Land helfen. Aber die Roten Khmer waren immer noch da, deshalb habe ich mir immer Sorgen um ihn gemacht.“
Die genauen Umstände seiner Ermordung werden möglicherweise nie vollständig aufgeklärt sein. Fest steht aber, dass Ngors Einfluss weit über seinen Tod hinausreicht: „Er hat seine Berühmtheit genutzt, um die Menschen aufzuklären“, gab seine Nichte zu Protokoll. „Und jedes Mal, wenn die Leute seinen Oscar sehen, stellen sie mir Fragen zu Kambodscha – und sein Vermächtnis lebt weiter.“
Ein ähnlicher Artikel ist zuvor bereits auf unserer französischen Schwesternseite AlloCiné erschienen.
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