Oscargewinner Joaquin Phoenix („Joker“) verkörpert in „Beau Is Afraid“ den von allen erdenklichen Phobien geplagten Protagonisten, der eigentlich nur zur Beerdigung seiner jüdischen (Über-)Mutter reisen will, aber dabei die Welt vor der Haustür wahrnimmt, als würde auf den Straßen ein postapokalyptischer Bürgerkrieg toben, bei dem u.a. ein nackter Serienkiller wahllos Passant*innen absticht.
Man erkennt es vielleicht bereits an der kurzen Handlungsbeschreibung: „Beau Is Afraid“ ist ein Film wie kein anderer – und für jeden Kinofan, der sich auch abseits der ausgetretenen Pfade zu Hause fühlt, ein absolutes Muss! Zugleich wird es aber kaum jemanden geben, bei dem nach dem dreistündigen Psycho(sen)-Trip voller absurd-skurriler Geschehnisse kein Redebedarf besteht – nur ist man mit konkreten Fragen zum Inhalt bei Ari Aster („Hereditary“, „Midsommar“) wohl eher nicht an der richtigen Adresse…
FILMSTARTS: Ich habe gestern zur Vorbereitung auf unser heutiges Gespräch mal „Ari Aster Interview Beau Is Afraid“ gegoogelt. Die ersten beiden Videos, die angezeigt wurden, trugen beide denselben Titel: „Ari Aster will nicht über ‚Beau Is Afraid‘ reden.“ Muss ich mir jetzt große Sorgen um die nächsten 15 Minuten machen?
Ari Aster: Mach dir keine Sorgen, alles wird gut (lacht).
Weltpremiere in Form eines Aprilscherzes
FILMSTARTS: Da du deinen Film nicht erklären willst, und das kann ich nur unterstützen, verfolgst du denn die Interpretationen, die jetzt nach und nach online aufpoppen?
Ari Aster: Ich habe die Interpretationen bislang noch nicht verfolgt. Es ist einfach zu früh, ich kann alles rund um „Beau Is Afraid“ aktuell nur in kleinen Dosen aufnehmen. Es ist regelrecht desorientierend, einen Film rauszubringen. Man hat so viel Zeit damit verbracht, ihn in die richtige Form zu bringen, und er gehört dabei ganz dir selbst. Aber wenn er veröffentlicht wird, ist es damit vorbei. Noch halte ich mich deshalb vom aktuellen Diskurs rund um den Film fern, um hoffentlich zunächst noch ein klein bisschen vom Film für mich behalten zu können.
FILMSTARTS: Die Weltpremiere des Films fand als eine Art Aprilscherz statt. Es gab am 1. April mehrere Screenings des Director’s Cut von „Midsommar“ – aber dann wurde stattdessen „Beau Is Afraid“ gezeigt. Bist du den ganzen Film durch mit im Saal geblieben, um mitzuerleben, wie das Publikum reagiert?
Ari Aster: Ich habe den Film nicht ganz mitgeschaut, das hätte mein Magen gar nicht ausgehalten. Aber von dem, was ich mitbekommen habe, klangen die Reaktionen im Saal sehr erfreulich.
FILMSTARTS: Du hast mir schon in unserem ersten Interview von 2018 verraten, dass du mehrere komplett fertige Skripts in der Schublade liegen hast. Warum war jetzt die Zeit, nach „Hereditary“ und „Midsommar“ als nächstes Projekt „Beau Is Afraid“ in Angriff zu nehmen?
Ari Aster: Ich habe einfach die Welt vermisst. Ich hatte so viel Freude, sie zu schreiben. Ich habe damit vor zehn Jahren begonnen und dann habe ich das Skript erst mal in eine Schublade gepackt und erstmal nicht weiter dran gedacht. Irgendwann habe ich es dann hervorgeholt und es hat mich noch immer zum Lachen gebracht, obwohl ich in der Zeit älter geworden bin und sich auch sonst viel für mich verändert hat. Dann habe ich die Geschichte noch mal aufgeblasen und in die Form eines Schelmenromans gebracht, selbst wenn das eigentlich eher eine literarische als eine filmische Tradition ist. Es wurde zu diesem geräumigen Ding, in dem ich einfach sehr gern herumstreune.
FILMSTARTS: Wenn ich mir vorstelle, wie du das Skript geschrieben hast, dann sehe ich dich auf einem dunklen Dachboden an einer einsamen Schreibmaschine, voll konzentriert, der Film ist schließlich hochgradig intensiv, aber dann lachst du plötzlich laut los, weil dann wieder einer dieser völlig absurden dunkelschwarzhumorigen Momente aus dir herausbricht...
Ari Aster: Das kommt dem realen Prozess tatsächlich sehr nahe…
Ein Albtraum (fast) ohne Entkommen
FILMSTARTS: Das letzte drittel von „Hereditary“ folgt einer Albtraumlogik, die zweite Hälfte von „Midsommar“ folgt eine Albtraumlogik – und nun folgen alle drei Stunden von „Beau Is Afraid“ einer Albtraumlogik. Was reizt dich so sehr daran, dass du offensichtlich immer wieder und inzwischen sogar noch stärker dorthin gezogen wirst?
Ari Aster: Ich weiß es auch nicht genau. Am Ende ist das einfach die Art und Weise, wie meine Vorstellungskraft funktioniert. Ich weiß, dass ich immer zuerst an das Worst-Case-Szenario denke, auch wenn ich das selbst in dem Moment gerade gar nicht will. Aber zumindest habe ich ja die Filme als kreatives Outlet, um genau das zu rauszulassen und zu verarbeiten…
FILMSTARS: Gerade die erste Stunde von „Beau Is Afraid“ ist im gleichen Maße ein postapokalyptisches Epos und eine zutiefst persönliche Höllenfahrt mit Szenen, die auf dem Papier vielleicht banal wirken, etwa wenn Beau einfach nur eine Flasche Wasser vom Supermarkt gegenüber kaufen möchte, was in seiner abgefuckten Welt aber eine unglaubliche Spannung und Intensität erreicht. Wie sicher warst du dir denn, dass das dann auch auf der Leinwand funktioniert? Es ist ja schon ein ziemlich gewagtes Experiment.
Ari Aster: Man muss einfach darauf vertrauen, dass es auch für andere funktioniert, solange es für einen selbst funktioniert. Man muss das Publikum eben möglichst ganz tief in diese Situation hineinziehen. Da gehört auch einfach eine Menge Handwerk dazu, etwas als mitreißend zu inszenieren, was vielleicht eigentlich gar nicht funktionieren sollte. Aber gerade das ist es auch, was mir am Filmemachen einen solchen Spaß bereitet…
Der pure Exzess
FILMSTARTS: Als ich mit dir über „Midsommar“ gesprochen habe, hast du erklärt, wie wichtig dir Zurückhaltung sei – und dass du dir selbst bei den Kopfüber-mit-der-Drohne-Aufnahmen nicht sicher bist, ob das nicht vielleicht schon zu viel sei. Aber „Beau Is Afraid“ ist ja nun purer Exzess – gab es da in den letzten Jahren ein Umdenken bei dir?
Ari Aster: Es sind eben einfach sehr verschiedene Filme. Es gibt es einen ganz anderen Vertrag zwischen mir und dem Publikum, wenn ich einen zurückhaltenden Film mache – oder eben „Beau Is Afraid“, der von Natur aus gerade absolut zügellos ist. Mein Ziel war glorioser Maximalismus. Zudem verlangt jede Sektion des Films nach verschiedenen Dingen, eine andere Haltung und eine andere Philosophie. „Beau Is Afraid“ verändert sich innerhalb der drei Stunden ja immer wieder total.
FILMSTARTS: „Beau Is Afraid“ ist von deinem eigenen Kurzfilm „Beau“ inspiriert. Nun passiert das nicht selten – aber meistens folgen die Langfilme einfach nur der Plotidee des Kurzfilms, die dann aber oft nicht mal die üblichen 80 bis 100 Minuten trägt. Aber dein Film ist nun drei Stunden lang – und selbst nach 175 der 180 Minuten haust du noch überraschende neue Ideen raus. War es immer geplant, dass sich der Kurzfilm zu einer solch epischen Erzählung weiterentwickelt – oder ist das beim Schreiben einfach passiert?
Ari Aster: Der Plan war immer, den Film so groß wie möglich zu machen. Die Natur eines Schelmenromans ist, dass er auf erfüllende Weise mäandert – und ich meine damit nicht die herabwürdigende Bedeutung des Wortes „mäandern“, aber es beschreibt einfach sehr gut den Film, der immer wieder seine Haut abstreift und zur nächsten weiterwandert, und dabei trotzdem einen inneren Zusammenhalt erfährt. Ich sehe den Film als Gestaltenwandler, der immer tiefer und tiefer in den Charakter von Beau hinabsteigt – um so ein Epos zu schaffen, das im selben Moment immer intimer und intimer wird. Die Landschaft des Films ist dabei das Innere des Protagonisten.
FILMSTARTS: Zwischen der Sundance Premiere und dem Kinostart von „Hereditary“ hast du mir verraten, dass du dich zwar über die positiven Kritiken sehr freust, aber auch ein wenig besorgt seist, weil einige Autor*innen den Film mit „Der Exorzist“ verglichen haben, was beim Publikum womöglich die falschen Erwartungen schüren könnte. Nun hast du „Beau Is Afraid“ selbst als „jüdischen ‚Herr der Ringe‘“ beschrieben. Bereust du das?
Ari Aster: Ich habe ja offensichtlich einen Witz gemacht und hoffe doch, dass die Leute die Ironie verstehen …
FILMSTARTS: … also ich würde Geld dafür zahlen, bei „Beau Is Afraid“ zwischen zwei Leuten zu sitzen, die in Erwartung eines neuen „Herr der Ringe“ ins Kino gegangen sind …
Ari Aster: … yeah! Ich bereue es nur, weil „Herr der Ringe“ sowieso schon ein so jüdischer Text ist. Die Formulierung „der jüdische Herr der Ringe“ ist deshalb irgendwie doppelt gemoppelt. Ich hätte lieber „der jüdische ‚Lawrence von Arabien‘“ sagen sollen – nur dass Beau im Verlauf des Films nicht Arabien, sondern seine eigenen Eingeweide durchquert…
Zur ausführlichen FILMSTARTS-Kritik zu "Beau Is Afraid"
FILMSTARTS: Zu „Midsommar“ hat das Studio A24 die gar nicht kindertaugliche Actionfigur „Bear In A Cage“ auf den Markt gebracht. Wenn es nun auch zu „Beau Is Afraid“ eine ähnliche Marketingaktion geben würde, welches Motiv würdest du für ein solches Sammelobjekt wählen?
Ari Aster (denkt lange nach): Ja, vielleicht seinen Vater. Wenn Leute den Film gesehen haben, wissen sie, warum das eine ziemlich coole Sache wäre…
Apropos Gesprächsbedarf, den hatten nach dem Film übrigens auch unser Podcast-Moderator Sebastian und ich, weshalb wir in der neuen Folge von Leinwandliebe tatsächlich noch mal sehr ausführlich über „Beau Is Afraid“ diskutiert haben. Hört doch gern mal rein:
Nach „Beau Is Afraid“ bleiben wir jedenfalls extrem gespannt, was Ari Aster als nächstes aus seiner offenbar noch immer prallgefüllten Skript-Schublade ziehen wird. Außerdem ist es fast egal, wie genau man am Schluss zum Film steht, es ist einfach schön zu sehen, dass ein Studio wie A24 stolze 30 Millionen Dollar für einen solchen Trip raushaut und damit zeigt, dass es noch immer Studios gibt, die bereit sind für die Vision eines Regisseurs ein echtes Risiko einzugehen. Da scheint sich Ari Aster mit „Hereditary“ und „Midsommer“ also offensichtlich schon ein gewaltiges Standing erarbeitet zu haben…