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    Beau Is Afraid
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Beau Is Afraid

    Ein dreistündiger Psycho(sen)-Trip, der einem wirklich alles abverlangt

    Von Christoph Petersen

    Zwei Filme, zwei Meisterwerke: „Hereditary – Das Vermächtnis“ und „Midsommar“ spalten zwar das Publikum, haben an den Kinokassen aber trotz ihrer markerschütternden Konsequenz ihren Schnitt gemacht! Mit diesen Erfolgen im Rücken ist der gerade mal 36-jährige Ari Aster offensichtlich angetreten, bereits im dritten Anlauf sein ultimatives Opus Magnum abzuliefern – denn anders lässt sich das alle Grenzen sprengende Paranoia-Epos „Beau Is Afraid“ kaum einordnen. Vom Regisseur selbst ursprünglich als „vierstündige Albtraum-Komödie“ angekündigt, ist der fertige Film zwar „nur“ zwei Stunden und 59 Minuten lang – aber die haben es wahrhaft in sich. Ein in jeglicher Hinsicht radikal-visionärer Psycho(sen)-Trip, der einen mit seiner absoluten Kompromisslosigkeit gleichermaßen beglückt und enerviert.

    Aufbauend auf dem Kurzfilm „Beau“ von 2011, in dem ein Mann davon abgehalten wird, wie geplant seine Mutter zu besuchen, als ihm die Schlüssel aus seiner Haustür geklaut werden, ist der Titel „Beau Is Afraid“ wohl die Untertreibung des Jahrhunderts: Im Vergleich zu Beau (Joaquin Phoenix) wirkt schließlich selbst „Joker“-Protagonist Arthur Fleck wie ein angenehm-ausgeglichener Zeitgenosse. Im ersten Drittel des Films begleiten wir das dauerhypchondrierende Neurosenbündel bei den letzten Vorbereitungen für den Trip zu seiner Mutter (Patti LuPone) – wobei auch wir die Welt aus seiner offensichtlich psychotischen Perspektive erleben.

    Joaquin Phoenix gibt ja eigentlich immer alles – aber in „Beau Is Afraid“ gibt er sogar noch ein Stück mehr!

    Wenn Beau vor die Tür seines Appartementkomplexes tritt, dann herrschen auf der Straße regelrecht bürgerkriegsartige Zuständige, als wäre er zufällig in das Set eines besonders krassen „Mad Max“-Films hineingestolpert: Auf der brillant-verstörenden Tonspur wird nur geschrien, überall explodieren grundlos Dinge, die Menschen fallen wie Zombiehorden übereinander her, ein nackter Serienkiller macht das Viertel unsicher und sticht wahllos auf die Leute ein. Nach dem Schlüsselraub fühlt sich Beau auch in der eigenen Wohnung endgültig nicht mehr sicher – selbst über seiner Wanne kauert irgendwann ein fetter Mann, der sich so verzweifelt an der Decke festklammert, dass sein Schweiß in einem nicht abreißenden Strom auf den badenden Beau herabtropft.

    Die erste Stunde ist tatsächlich ein erbarmungslos-unablässiger Albtraum, aus dem es für uns und erst recht für Beau kein Entkommen zu geben scheint – selten hat ein Film sein eigenes Publikum so direkt und viszeral attackiert wie der Auftakt von „Beau Is Afraid“. Für den Zustand des Protagonisten gibt es erst einmal keine großen Erklärungen – vielmehr geht es um die schiere körperliche Erfahrung einer solchen Dauerpanik. Näher kann man dem Gefühl einer tatsächlichen Psychose im gemütlichen Kinosessel wohl kaum kommen. Ist es – allem reichlich eingestreuten schwarzem Humor zum Trotz – unangenehm, sich das anzusehen und vor allem wie am eigenen Leib mitzuerleben? Auf jeden Fall! Aber gerade das macht die erste Stunde von „Beau Is Afraid“ zu einem der absoluten Highlights des Kinojahres!!!

    Beau auf den Spuren von Dorothy – fehlen nur noch der Blechmann, der Löwe und die Vogelscheuche.

    Im zweiten Drittel findet sich der zwischenzeitlich über den Haufen gefahrene Beau plötzlich in der Obhut des Chirurgen Roger (Nathan Lane) und seiner Frau Grace (Amy Ryan) wieder. Im rosa-lilafarbenen, mit K-Pop-Postern und Einhörnern ausstaffierten Zimmer der Teenager-Tochter Toni (Kylie Rogers) erwachend, versteht Beau genauso wenig wie das Publikum, was zum Teufel hier eigentlich los ist. Vor allem dank der Performance von Broadway-Superstar Nathan Lane („Mäusejagd“), zwischen dessen betont guter Laune immer genügend potenzielle Abgründigkeit durchscheint, um Beau gemeinsam mit uns in den nächsten Verschwörungs-Kaninchenbau hinabsteigen zu lassen, wird der schwarze Humor in diesem Abschnitt noch mal deutlich hochgefahren.

    Nach dem völlig originären Auftakt fällt dieser Teil des Films aber trotzdem ein wenig ab. Geschichten von psychiatrischen Patienten, die sich einbilden (oder völlig zu Recht daran glauben), dass das medizinische Personal ihnen in Wahrheit nur Böses will, gibt es schließlich schon viele – und „Beau Is Afraid“ bietet in dieser Hinsicht zu wenig Neues, um diesen doch relativ ausgiebigen Ausflug in das Paranoia-Genre angesichts der insgesamt bereits so ausufernden Laufzeit vollends zu rechtfertigen. Wobei man sich natürlich auch in diesem Abschnitt am Schauspiel von Joaquin Phoenix kaum sattsehen kann. Einen Auftritt des Oscargewinners als Tour-de-Force-Performance zu beschreiben, ist eigentlich fast schon überflüssig, schließlich ist das meist sein üblicher Modus Operandi – aber wie sich der „Joker“-Star hier vollkommen uneitel psychisch und physisch entblößt, ist trotzdem noch mal auf einem anderen Level.

    Auch die Erinnerungen an eine Kreuzfahrt als Kind verschaffen Beau keine Erleichterung – ganz im Gegenteil!

    Der auch selbst für das Drehbuch verantwortlich zeichnende Ari Aster belässt es allerdings nicht dabei, dass sein Protagonist eben einfach unter einer psychotischen Paranoia leidet – sondern steigt dann im finalen Drittel doch noch ganz tief hinab in die zutiefst traumatisierte Psyche seines Protagonisten. „Beau Is Afraid“ endet deshalb aber nicht etwa als Freud’sche Psychoanalyse, selbst wenn ein Riesenpenis mit prallgefüllten Hoden im Finale eine zentrale Rolle spielt, sondern als zunächst noch verspielt-theatralisch auf den Spuren von „Der Zauberer von Oz“ wandelndes, schließlich sogar an den karikaturesk-opernhaften Schlussakt von Lars von Triers „The House That Jack Built“ gemahnendes Experimentalkino, das man genauso gut als prätentiösen Kunstwahn eines etwas zu hochfliegenden Regie-Egomanen wie als augenzwinkernde David-Lynch-Parodie lesen kann.

    „Beau Is Afraid“ ist definitiv ein Film, dessen Länge von drei Stunden einen körperlich, seelisch und psychisch regelrecht auslaugt – und das ist in diesem ganz besonderen Fall nicht unbedingt etwas Schlechtes…

    Fazit: Ein absolut unvergleichliches Kinoerlebnis – und zugleich eine gehörige Geduldsprobe.

     

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