FILMSTARTS: Nach der Premiere beim Filmfestival in Sundance wurde „Hereditary - Das Vermächtnis“ bereits über alle Maßen von der Filmkritik gefeiert – aber das reguläre Publikum hat den Film immer noch nicht gesehen. Das muss ja gerade eine ganz merkwürdige Zeit zwischen Erleichterung und Erwartung für dich sein?
Ari Aster: Es ist wirklich toll, dass der Film so warm aufgenommen wurde und dass so viele Menschen ihn loben. Trotzdem versuche ich meine Erwartungen für den Kinostart ein wenig zu drosseln. Außerdem birgt ein solcher Hype auch immer die Gefahr, dass die Menschen mit Erwartungen in den Film gehen, die dann einfach nicht erfüllt werden. Ich wünsche mir, dass die Zuschauer dem Film möglichst unvoreingenommen begegnen und den ganzen Hype vergessen, aber das ist natürlich leider unmöglich.
FILMSTARTS: Du sprichst davon, dass die Kritiken Erwartungen schüren, die dann womöglich nicht erfüllt werden. Hast du ein Beispiel für ein Lob eines Kritikers, das dir nun Sorgen bereitet?
Ari Aster: Es ist total aufregend, wenn der Film mit „Der Exorzist“ vergleichen wird. Aber der Filmkritiker meinte damit die Wirkung, die der Film auf sein Publikum hat, und nicht die Thematik oder die Story. Aber einige Zuschauer könnten jetzt in den Film gehen und einen zweiten „Der Exorzist“ erwarten, aber den werden sie nicht bekommen. Ich liebe „Der Exorzist“, ich bin begeistert, dass „Hereditary“ auch nur im selben Satz mit „Der Exorzist“ genannt wird, aber letztendlich sind die beiden Filme eben sehr verschieden voneinander. Ich möchte nicht, dass jemand in den Film geht und enttäuscht wieder rauskommt, weil „Hereditary“ nicht war wie „Der Exorzist“. Das ist ein Beispiel.
FILMSTARTS: Ich habe vor ein paar Wochen John Krasinski in einer ganz ähnlichen Situation interviewt – „A Quiet Place“ war nach seiner Premiere beim SXSW-Festival bejubelt worden, aber der reguläre Kinostart stand noch aus. Und da wollte ich von ihm wissen, ob er seinen Job nun, da die Leute den Film lieben, für erledigt erachtet, oder ob es ihm wichtig ist, dass der Film nun möglichst auch noch eine Menge Geld einspielt. Wie ist das bei dir?
Ari Aster: Ich würde schon sagen, dass ich meinen Job getan habe. Aber ich bin ja auch gerade hier und gebe Interviews. Ich will alles tun, um dem Film zu helfen, und ich freue mich, dass ich Interviews geben und mit Leuten über den Film sprechen kann. Im Großen und Ganzen fühle ich, dass mein Job erledigt ist, und zwar schon seit der Fertigstellung des Films. Trotzdem hoffe ich, dass er Erfolg hat und sein Publikum findet.
FILMSTARTS: Mich hat gleich die erste Einstellung des Films, wo die Kamera in das Puppenhaus hineinfährt und dann plötzlich Schauspieler aus Fleisch und Blut in der Miniatur auftauchen, total begeistert – und zwar nicht nur, weil sie für sich genommen absolut brillant ist, sondern auch, weil sie auf eine gewisse Art bereits den ganzen Film inklusive der Atmosphäre und der Figuren vorwegnimmt. War diese Einstellung auch für dich ein Ausgangspunkt – oder kam sie erst später dazu?
Ari Aster: Das war eines der ersten Dinge, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben. Und ich bin glücklich, dass du es so siehst, dass die Szene vieles vorausahnen lässt, denn das war auch die Idee dahinter. Ich wollte nicht, dass die Einstellung nur wie eine Klammer wirkt, weil wir mit dem Baumhaus in der ersten Szene des Films anfangen und in der letzten Szene wieder aufhören. Ich wollte zudem, dass die erste Szene ein thematisches Statement abgibt, selbst wenn einem das als Zuschauer vielleicht gar nicht sofort klar wird bis man weiß, wohin sich der Film am Ende entwickeln wird.
Das Publikum muss aus seiner Behäbigkeit herausgeschockt werden
FILMSTARTS: Ich hatte das Glück, den Film schon zwei Mal sehen zu können – und das zweite Mal war zwar eine völlig andere, aber erneut ziemlich überraschende Erfahrung, da in der ersten Hälfte schon eine Menge Andeutungen auf das spätere Geschehen gemacht werden, die man beim ersten Schauen aber noch gar nicht unbedingt mitbekommt. War das Absicht?
Ari Aster: Es freut mich sehr, das zu hören. Ich wollte tatsächlich einen Film machen, der auch mehrmaligem Anschauen standhält. Außerdem wollte ich einen Film machen, der den Zuschauer dazu ermuntert, sich wirklich auf eine aktive Art zu beteiligen. Ich habe das Gefühl, dass es im Genrekino die Entwicklung gibt, dass das Publikum auf gewisse Weise selbstgefällig wird. Man kennt die Regeln und die Klischees – und dann geht es nur noch darum, dass ein Genrefilm sie entweder erfüllt oder unterläuft. Aber das versetzt den Zuschauer in eine sehr passive Rolle. Ich verstehe es als meine Aufgabe als Genreregisseur, das Publikum aus seiner Behäbigkeit herauszuschocken und es zu einer tieferen Art des Engagements zu bewegen. Ich hoffe, dass diesem Film das gelingt.
FILMSTARTS: Gerade die Einstellungen der Räume im Haus fühlen sich alle an, als seien sie irgendwie ganz leicht verkehrt – und gerade deshalb fühlen sie sich so unheilvoll an. Ist das etwas, was ich mir nur einbilde, oder steckt da eine Technik dahinter?
Ari Aster: Das ist definitiv etwas, das wir bewusst versucht haben. Ich wollte eine möglichst unheimliche Atmosphäre erzeugen und dazu haben wir auch das Haus von Grund auf neu im Studio gebaut, sodass wir jede Einstellung voll unter unserer Kontrolle hatten. Ich wollte, dass das Haus im Verlauf des Films schrittweise immer weniger wie ein Zuhause wirkt.
FILMSTARTS: Lange haben wir in einem Film Schmerz nicht mehr so direkt und ungeschminkt gefühlt wie in „Hereditary“ – wo kommt der her und müssen wir uns Sorgen um dich machen?
Ari Aster: (lacht) Ich wollte einen ernsthaften Film über Schmerz und Traumata machen. Und ich wollte den Figuren Respekt entgegenbringen, indem ich ihren Schmerz ernstnehme. Ich kann nicht wirklich darüber sprechen, wo das herkommt, aber ich kann sagen, dass ich mich, während ich den Film geschrieben und inszeniert habe, selbst mit bestimmten Gefühlen auseinandersetzen musste. Also habe ich sie durch einen Genrefilter gepresst.
Genrekino als Gefühlsversteck
FILMSTARTS: Wie haben denn deine Familie und Freunde auf den Film reagiert – es fällt ja auch oft nahestehenden Personen nicht ganz leicht, zwischen dem Künstler und seiner Kunst zu unterscheiden?
Ari Aster: Ja, das ist immer die Gefahr, egal was man erschafft. Aber das ist auch einer der Gründe, warum ich es liebe, Genrekino zu machen. Denn ein Genrefilm ist wie eine Maschine, in die man seine Gefühle hineinstopfen kann und was dann herauskommt, ist etwas Erfundenes im Gegensatz zu einem simplen Geständnis. Man kann sich hinter dem Genre verstecken, aber zugleich kann man auch bestimmte Sachen, die man sagen möchte, mit Hilfe des Genres noch deutlicher ausdrücken.
FILMSTARTS: Die im Verlauf des Films immer verstörender werdenden Miniaturmodelle, die Mutter Annie für ihre Ausstellung namens „Small Worlds“ anfertigt, spielen im Film gleich auf mehreren Ebenen eine sehr wichtige Rolle. Wo kam die Idee dazu her?
Ari Aster: Es hat sich für mich einfach wie eine sehr kraftvolle Metapher für all das angefühlt, was die Familie durchmachen muss. Diese Idee von Puppen im Puppenhaus steht für Menschen, die eigentlich keinerlei Einfluss auf ihr eigenes Schicksal haben. Die Puppenhaus-Ästhetik des Films ist zwar zuallererst mal eine visuelle Entscheidung, die allerdings aus einer thematischen Überlegung heraus erwachsen ist.
FILMSTARTS: Hast du dich denn getraut, das einfach direkt ins Drehbuch zu schreiben? Oder hast du erst einmal sichergestellt, dass es dann auch jemanden gibt, der dir solche Dinger überhaupt bauen kann?
Ari Aster: Ich habe es in der Hoffnung geschrieben, dass wir dann schon die richtige Person finden werden. Und das ist uns dann zum Glück auch gelungen.
FILMSTARTS: Schon bevor du grünes Licht für den Film bekommen hast, gab es eine detaillierte Planung für jede einzelne Einstellung für den Film – dabei ist das ja eigentlich etwas, um das man sich maximal kurz vor Drehstart kümmert. Würdest du anderen jungen Filmemachern eine ähnliche Vorgehensweise empfehlen – oder ist das nicht vielleicht doch ein bisschen verrückt?
Ari Aster: Man kann schon sagen, dass es ein bisschen verrückt ist, aber ich kenne einfach keine andere Art zu arbeiten. In gewisser Hinsicht ist es auch nicht die klügste Herangehensweise, weil man sich selbst ein wenig die Freiheit nimmt und einige Schauspieler sogar echt genervt sind, wenn man als Regisseur ans Set kommt und schon jede Einstellung ganz genau im Kopf hat. Aber ich mache meine Liste mit allen Einstellungen schon, bevor ich überhaupt mit jemandem über den Film rede, weil ich vorher in der Lage sein will, ihn in meinem Kopf zu sehen. Das Schreiben des Skripts ist für mich wirklich nur der erste Schritt des Regieführens, bei dem ich die Struktur, die Story und die Figuren entwickle. Aber dann geht es darum, den Film zu visualisieren. Ich mache das, damit ich dann zu meinem Kameramann und meinem Produktionsdesigner gehen und sie Einstellung für Einstellung durch den Film führen kann. Das ergibt die fruchtbarsten Dialoge, denn wir haben alle denselben Film vor unserem inneren Auge.
Und wenn man ambitionierte Dinge vorhat, einem aber nur ein gewisses Budget zur Verfügung steht, dann ist das auch eine ökonomische Entscheidung: Wenn man exakt weiß, was man filmen will, dann müssen wir nichts bauen, was dann im Film letztendlich gar nicht zu sehen ist. Wenn wir einen Raum errichten, dann weiß ich genau, welche Seite des Raumes und wie viel davon man im Film sehen wird. Damit ist klar, ob wir eine bestimmte Ecke tatsächlich dekorieren müssen oder ob man das Geld nicht besser woanders einsetzt, wo man es am Ende auch auf der Leinwand sieht.
Gegen alle Widerstände
FILMSTARTS: Im letzten Drittel geschehen einige echt abgefahrene Dinge im Film, die auch deshalb so gut funktionieren, weil sie im Schmerz der Figuren geerdet sind. Aber ich kann mir vorstellen, dass das auf dem Papier noch ziemlich verrückt und abgehoben gewirkt haben muss – gab es da viele Leute, die dir gesagt haben, dass du da vielleicht besser ein paar Gänge runterschalten solltest?
Ari Aster: Eine Menge Leute hatten Ratschläge in die Richtung, dass der Film am Ende aus den Gleisen springen würde. Aber ich habe immer gewusst, dass ich einen Film mache, der im Verlauf seiner Spielzeit die traditionelle Logik hinter sich lassen und dafür in eine Art Albtraumlogik hinübergleiten würde. Das war immer der Plan – und ich wollte das so graduell wie möglich machen, sodass die klassische Logik ganz langsam unter dem Gewicht der extremen Emotionen im Zentrum des Films kollabiert. Als wir versucht haben, den Film zu finanzieren, gab es da eine Menge Gegenwind. Aber sobald wir in die Vorproduktion gegangen sind, waren alle absolut mit an Bord und wir konnten uns allein darauf konzentrieren, unseren Film zu machen.
Hereditary - Das VermächtnisFILMSTARTS: Das klingt schon alles so, als wärst du ein ziemlicher Perfektionist. Aber ein Aspekt, den man niemals zu 100 Prozent unter Kontrolle haben kann, sind die Schauspieler. Vor allem Toni Collette ist ein extrem wichtiger Teil des Films – wie hast du sie von dem Projekt überzeugt?
Ari Aster: Das ist wahr. Und es ist Teil meines Jobs als Regisseur, eine Atmosphäre zu erschaffen, in der die Schauspieler ihre besten Leistungen bringen können. Aber im Fall von Toni und eigentlich auch all den anderen Schauspielern war es so, dass bereits im Drehbuch sehr klar wird, was die Rolle alles von ihnen verlangt. Und das ist etwas, worüber ich mit jedem in der allerersten Diskussion gesprochen habe: Dass sie wirklich die volle Distanz gehen müssen. Und das haben auch alle Darsteller getan, vor allem Toni Collette und Alex Wolff geben absolute Kamikaze-Performances, bei denen sie jede Eitelkeit aus dem Fenster schmeißen.
„Hereditary – Das Vermächtnis“ läuft seit dem 14. Juni in den deutschen Kinos!