Nach seinem herausragenden Debüt „Hereditary – Das Vermächtnis“ hat Ari Aster mit seinem Folgewerk „Midsommar“ nun zum zweiten Mal in Folge einen Film gedreht, den wir bei FILMSTARTS für den besten Horrorfilm des Jahres halten. Was für ein Start in die Karriere!
Midsommar„Midsommar“ handelt von vier US-Studenten (u.a. Jack Reynor, Florence Pugh), die über den Sommer ein kleines schwedisches Dorf besuchen, wo sie an einem neuntägigen, in dieser Form nur alle 90 Jahre stattfindenden religiösen Fest teilnehmen wollen.
Aber die Mitsommer-Feierlichkeiten, für die sich die Einheimischen in weiße Kleider hüllen und mit Blumen schmücken, als würden sie für ein IKEA-Fotoshooting posieren, sind längst nicht so harmlose, wie es zunächst den Anschein haben mag…
Das Ergebnis ist ein abgründiger Psycho-Trip irgendwo zwischen Satanisten-Orgie und Möbelhaus-Katalog, der die Regeln des Horrorgenres immer wieder konsequent ignoriert. So spielt „Midsommar“ etwa die meiste Zeit im gleißenden Sonnenlicht des sommerlichen Schwedens…
FILMSTARTS: „Midsommar“ ist einer von nur ganz wenigen Horrorfilmen, die fast ausschließlich im Hellen spielen. Bist du ein Masochist? War es dir zu einfach, die Leute mit „Hereditary“ im Dunkeln zu erschrecken? Hast du dir deshalb jetzt absichtlich quasi die Hände beim Filmen auf dem Rücken zusammengebunden?
Ari Aster: Das Masochistische war gar nicht der Dreh bei Tageslicht, sondern die logistischen Herausforderungen, die es mit sich bringt, einen ganzen Film draußen zu drehen. Man ist immer abhängig vom Wetter und vom Stand der Sonne, so wird jeder einzelne Tag zu einem logistischen Albtraum.
Zugleich ist „Midsommar“ aber auch kein Film, der nach Jump Scares strebt oder versucht, auf eine traditionelle Weise schaurig zu sein. Er schöpft seine verstörende Wirkung eher aus einer anderen Art von Schrecken. Für mich hat sich der Film deshalb auch nie so angefühlt, als bräuchte oder wollte er den Mantel der Dunkelheit.
Stattdessen ist es ein Film über Menschen unter Beobachtung, die an diesem Ort vollkommen exponiert und ungeschützt sind. Sie können nirgendwo hin fliehen. Die Situation der Protagonisten ist ein reelles existenzielles Dilemma – und das ist es auch, womit ich den Zuschauern das Fürchten lehren möchte.
Wie weit soll man bei der Gewalt gehen
FILMSTARTS: Die unheimliche Atmosphäre kreierst du tatsächlich mit großer Subtilität. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die plötzlichen Gewaltausbrüche, die sich nicht nur ein wenig „over the top“, manchmal sogar fast schon theatralisch anfühlen. Wie weißt du, wie weit du gehen kannst, um das Publikum so zu schocken, dass es trotzdem nicht über die Szenen lacht?
Ari Aster: Ich hoffe eigentlich, dass das Publikum ab einem gewissen Punkt sehr wohl darüber lacht. Ich hoffe, dass einige der besonders extremen Momente auch lustig sind. Ich versuche aber auch, nicht zu viel über solche Dinge nachzudenken.
Wie weit ich gehe, entscheide ich stattdessen aus dem Bauch heraus. Ich weiß: Das ist keine zufriedenstellende Antwort, aber gibt da eben auch keine mathematische Formel, die man anwenden könnte. Als Filmemacher bleibt einem am Ende einfach nichts anderes übrig, als sich auf seinen eigenen Geschmack zu verlassen.
Das hat auch viel damit zu tun, wie ich die Filme von anderen Regisseuren wahrnehme. Ich schaue ihre Filme und spüre, wann sie genau so weit gehen, wie ich es mag – und wann sie den einen Schritt weiter machen. Bekanntlich ist jeder ein Kritiker – also ich auch! Folge einfach deinen Instinkten…
FILMSTARTS: Es ist eine alte Hollywood-Weisheit, dass es meist viel schwieriger ist, nach seinem Debüt auch noch ein zweites Projekt auf die Beine zu stellen. Auch deshalb waren wir alle so überrascht, dass du nach der Festival-Premiere von „Hereditary“ quasi direkt mit der Arbeit an „Midsommar“ begonnen hast. Ist das Produktionsstudio A24 einfach auf dich zugekommen und hat gesagt: „Hier, nimm unser Geld und mach damit, was du willst!“ Oder wie ist das gelaufen?
Ari Aster (lacht): Sie wussten vorher schon von „Midsommar“. Ich habe sogar noch mehr Skripts fertig in meiner Schublade, mit denen man sofort loslegen könnte. „Midsommar“ war dann der Film, den ich unbedingt als nächstes machen wollte. Nach der Premiere in Sundance, aber noch vor dem Kinostart hatten alle ein gutes Gefühl, alle mochten „Hereditary“ – nicht alle in der Welt, aber zumindest alle bei A24.
Es war aber klar, dass wir den Film unbedingt im Sommer drehen müssen – und um nicht ein ganzes Jahr ins Land zu ziehen zu lassen, haben wir mit der Vorproduktion von „Midsommar“ begonnen, während ich noch mitten in der Nachproduktion von „Hereditary“ gesteckt habe. Es war eine sehr spontane Entscheidung nach dem Motto: „Komm, wir machen das jetzt einfach!“
Als „Hereditary“ dann in die Kinos gekommen ist, hatten wir schon das Feld für „Midsommar“ gefunden und dort bereits das ganze Dorf der Kommune aus dem Boden gestampft. Ein sehr intensiver Übergang. Während ich die visuellen Effekte und das Sounddesign für „Hereditary“ fertiggestellt habe, suchten wir im selben Moment in Ungarn nach den passenden Locations für „Midsommar.“
FILMSTARTS: Es gehört auch zu meinem Job als Filmkritiker, die Handschriften und Themen von Regisseuren und Filmemachern herauszudestillieren – und deine Werke, auch wenn es bisher nur zwei sind, bieten sich dafür natürlich besonders gut an. Aber wie ist es für einen Filmemacher, der noch nach seinem Platz sucht, in Artikeln über sich zu lesen, was laut Meinung der Autoren „typisch für Ari Aster“ sei?
Ari Aster: Es ist lustig, weil ich ja auch selbst ein Cinephiler bin. Als ich aufwuchs, habe ich so viel über meine Lieblingsfilmemacher gelesen, wie ich nur finden konnte. Deshalb ist es für mich nicht merkwürdig, aber doch ungewohnt. Es ist auch einfach „surreal“, sowas überhaupt über mich zu lesen, wenn man bedenkt, dass ich zehn Jahre lang gekämpft habe, um auch nur die Finanzierung für meinen ersten Film zu bekommen.
Ich freue mich aber, dass Leute, die auf eine solche Art über das Kino nachdenken, sich nun auch für mich interessieren. Während ich die Filme mache, versuche ich aber, mich nicht zu sehr mit Selbstanalysen aufzuhalten: Ich weiß schließlich bei einigen Einstellungen, dass ich später bestimmt dafür kritisiert werde, dass sie vielleicht zu schwelgerisch oder maßlos geraten sind. Die auf dem Kopf stehende Drohnen-Aufnahme in „Midsommar“ wäre so ein Beispiel.
Gerade jemand wie ich, der beim Filmemachen eigentlich die Zurückhaltung schätzt, fragt sich natürlich schon, ob das jetzt nicht zu viel ist. Aber dann muss man einfach seinen Instinkten trauen. Es fühlt sich für mich richtig an, also mache ich es dann auch.
Niemand heult schöner
FILMSTARTS: „Misdommar“ ist in seinem Kern ein Film über das Auseinanderbrechen einer Beziehung. Nun habe ich bereits in mehreren Kritiken die doch eigentlich sehr ungewöhnliche Feststellung gelesen, dass deine Hauptdarstellerin Florence Pugh so großartig darin sei zu heulen – und ich würde mich bei diesem Lob auch selbst sofort anschließen. War das auch einer der Gründe, sie zu besetzen?
Ari Aster: Das ist lustig, dass du das sagst. Denn als ich sie gecastet habe, hat sie mir gestanden, dass sie noch nie für einen Film geweint hat. Sie war deshalb auch ganz nervös, weil sie nicht dachte, dass es ihr besonders gut liegen würde. Sie hat damit wohl auch schon schlechte Erfahrungen an anderen Sets gemacht.
Aber als sie bei uns aufgetaucht ist, hat sie verstanden, warum es für die Rolle so wichtig ist und dann ist es ihr auch auf Anhieb gelungen. Es war ziemlich unglaublich, wie sie einfach so in der Figur verschwinden konnte.
Jetzt wissen wir, dass sie fantastisch heulen kann. Aber das war tatsächlich die eine große Frage, als wir sie gecastet haben. Jetzt wirkt es natürlich vollkommen verrückt, dass wir uns darüber jemals Sorgen gemacht haben…
FILMSTARTS: Obwohl dieses Jahr auch „Avengers 4“ in den Kinos gestartet ist, geht der Preis für das beste Film-Merchandise ganz eindeutig an „Midsommar“ für das Kinderspielzeug „Bear In A Cage“. Was war deine Reaktion, als die Leute von deinem Verleih A24 dir mitgeteilt haben, dass sie diese Dinger nun tatsächlich produzieren werden? Oder war es vielleicht sogar deine eigene Idee?
Ari Aster: Nein, es war nicht meine Idee. Aber A24 hat einfach eine geniale Marketing-Abteilung. Ich war schon sehr aufgeregt, als sie mir das Werbevideo gezeigt haben. Inzwischen habe ich selbst einen „Bear In A Cage“ auf dem Regal stehen und liebe ihn total.
FILMSTARTS: Nur einen? Da bin ich jetzt doch ein wenig enttäuscht. Ich hätte jetzt erwartet, dass du in diesem Jahr jedem deiner Freunde und Bekannten einen zu Weihnachten schenkst…
Ari Aster (lacht): Ich weiß, guter Punkt. Ich sollte A24 tatsächlich noch mal wegen zusätzlicher Exemplare anhauen...
„Midsommar“ läuft seit dem 26. September 2019 in den deutschen Kinos.
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