Altern im Zeitraffer
Von Sidney ScheringDie Karriere von M. Night Shyamalan, der seine Filme seit seinem Comeback mit „The Visit“ komplett selbst finanziert, um sich so nach einigen schlechten Erfahrungen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit vom Studiosystem zu sichern, gleicht einem unsanften Wellengang voller Höhen („The Sixth Sense“, „Unbreakable“) und Tiefen („The Happening“, „Die Legende von Aang“). Was sich allerdings durch die ganze Karriere des Regisseurs zieht, ist die oft irreführende Bewerbung seiner Werke: Das Marketing betont bei ihnen nämlich gerne das Spektakel und den Schockfaktor über. So wurde „The Village“ etwa als Horrorschocker beworben – und das hat der Rezeption des nachdenklich-philosophischen Fantasy-Dramas natürlich massiv geschadet. Das Kinopublikum lässt sich eben ungern an der Nase herumführen.
Nachdem man bei „The Visit“, „Split“ und „Glass“ zuletzt so ziemlich das bekam, was einem die Trailer versprachen (mal abgesehen von der tollen „Unbreakable“-Offenbarung), zeigt sich bei „Old“ nun einmal mehr das alte Problem: Das Marketing verspricht einen temporeichen Mystery-Thriller voller Bodyhorror. Der Film selbst ist hingegen, ähnlich wie damals „The Village“, eher langsam, philosophisch und voller tragisch-trauriger Melancholie…
Guy (Gael García Bernal) und Prisca (Vicky Krieps) sind erst mal nur mit sich beschäftigt - bis sie merken, was an diesem Strand wirklich abgeht.
Guy (Gael García Bernal) und Prisca (Vicky Krieps) drohen einander mit der Scheidung. Also fahren sie für ein wenig dringend nötige Harmonie mit ihren Kindern Trent (Nolan River) und Maddox (Alexa Swinton) in den Urlaub. Ein Geheimtipp-Resort lockt mit einem versteckten Traumstrand. Ganz für sich hat das Quartett das Meer dann allerdings nicht, denn auch einige weitere Urlauber*innen wagen den Trip.
Beim Schwimmen am abgeschiedenen Strand findet der junge Trent die Leiche einer Frau, die nur wenige Augenblicke später komplett skelettiert ist. Auch für Trent und Maddox tickt die Uhr spürbar schneller: Sie altern rapide. Bald wird den Erwachsenen klar, dass auch sie betroffen sind. Spätestens am nächsten Morgen, so zeichnet es sich ab, werden die meisten an diesem Strand tot sein. Und das Schlimmste ist: Es scheint kein Entkommen zu geben…
Wer den Film erwartet, den das Marketing verspricht, wird wohl eher enttäuscht aus dem Kino kommen. Zwar gibt es einzelne Momente des Bodyhorrors, darunter eine diabolische Abfolge von Knochenbrüchen, die nur deformiert wieder verheilen – oder den verstörenden Anblick einer rapide verlaufenden Schwangerschaft. Aber in der Regel spielen sich die Schrecken an diesem Strand meist dann ab, wenn die handelnden Figuren und die von Mike Gioulakis („It Follows“) geführte Kamera gerade nicht hinschauen. Denn eine der Aussagen, die M. Night Shyamalan hier mit der wenig subtilen Attitüde einer Böse-Nacht-Geschichte trifft, ist: Die Zeit vergeht schneller als uns lieb ist, also sollten wir uns auf das Wesentliche konzentrieren.
Nicht grundlos sind die zentralen Protagonisten ein zerstrittenes Paar und deren Kinder, die die Eltern wiederholt achtlos beiseiteschieben. Für sie ist der Plot von „Old“ quasi das zynische Wahrwerden der Redewendung: „Einmal kurz weggeschaut, schon sind die Kleinen groß geworden!“. Die darunter verborgene Bitterkeit vermittelt Shyamalan effizient durch lange Einstellungen, in denen die Kamera beispielsweise an eine gerade abgelenkte Figur heranfährt und dann mit ihr gemeinsam auf eine in der Zwischenzeit völlig veränderte Situation am Strand zurückschwenkt. Andere Male wird das wunderhübsche, auf analogem Film gedrehte Landschaftspanorama erkundet, während im Off der Zahn der Zeit gerade schwer an etwas oder jemandem nagt.
Trent (Alex Wolff) und Maddox (Thomasin McKenzie) waren gerade noch junge Kinder...
Man kann das Szenario sicherlich auf verschiedene Weise interpretieren. Aber die Musikuntermalung von Komponist Trevor Gureckis („Voyagers“) unterstützt zumeist vor allem die melancholischste der möglichen Leseweisen: Drums und Klanghölzer evozieren das unaufhaltsame Ticken einer Uhr, während Streicher dem Score noch eine zusätzlich wehmütige Textur verleihen. Wann immer Shyamalan diese Stimmung für einen schnellen Schockeffekt aufbricht, wechselt Gureckis nahtlos in ebenso effektiven wie lärmenden Horror-Pomp.
Selbst wenn Gureckis diese Stimmungswechsel klanglich gut bewältigt und Shyamalan seine Schreckmomente für sich betrachtet passabel umsetzt, machen sie im Gesamtbild doch eines der Probleme von „Old“ deutlich: Als würde Shyamalan sich selbst oder seinem Publikum keine rein melancholische, symbolisch stark überspitzte Geschichte über verschwendete Zeit und die Unvermeidlichkeit des körperlichen Verfalls zutrauen, versetzt er diesen Stoff wiederholt mit effekthascherischen Mini-Setpieces, die jedoch für den erzählerischen Verlauf kaum von Belang sind. Die bereits erwähnte Knochenbruch-Knochenverheilungs-Kaskade hat beispielsweise keinerlei bleibenden Einfluss auf die handlungsrelevanten Figuren – und selbst die Turboschwangerschaft am Strand ist bei aller Verstörung, die sie im ersten Moment auslöst, schnell wieder vergessen.
In der Vorlage zu „Old“, die Graphic Novel „Sandcastle“ von Pierre Oscar Levys und Frederik Peeters, funktioniert die Vereinigung von subtileren, existenziellen Ängsten und reißerischen Schreckmomenten noch sehr viel besser. Was Shyamalan aber bei seiner Adaption sehr wohl auf die Leinwand hinübergerettet hat, sind die flüchtigen Momente des Friedens: Einmal konzentriert sich die Kamera ganz auf die Kinder, die sich gerade einen Wettstreit im Stillstehen liefern, während sich im Off die Erwachsenen streiten – solche Ruheinseln wie etwa auch ein Moment des Innehaltens beim Sandburgenbauen gehen Shyamalan in „Old“ einmal mehr sehr gut von der Hand.
Das gilt auch für die sanftmütig-dramatischen Momente wie etwa ein voller Reue geführtes Beziehungsgespräch zwischen Guy und Prisca. Bei der Exposition scheitert „Old“ hingegen krachend: Die Figuren stellen sich stets vollkommen unnatürlich vor, als würden sie ihren eigenen Steckbrief vorlesen. Auch die satirischen Elemente zünden selten: Abbey Lee („Mad Max: Fury Road“) etwa keift am Strand herum, als stamme sie aus einer gallig-grellen Schönheitswahn-Satire. Weder ihr exaltiertes Spiel noch ihre überspitzten Dialoge helfen dabei, ihre Rolle als organischen Teil des Films zu akzeptieren.
In "Old" gibt es weniger Bodyhorror, als es der Trailer vermuten lässt - aber es gibt ihn!
Überhaupt passen viele der Figuren abseits der zentralen Familie nicht wirklich zum Tonfall von „Old“: Der Rapper Mid-Sized Sedan (Aaron Pierre), der von einem der passiv-aggressiven Urlauber (Rufus Sewell) auch rassistisch angegangen wird, stapft ominös durch den Film, ohne dass sich diese geheimnisvolle Unwirklichkeit je in eine packende Enthüllung mündet. Auch Ken Leung, der mit „Lost“ ja schon Mystery-Rätsel am Strand gewöhnt ist, müht sich als um Contenance bemühter Arzt Jarin mit arg sonderbaren Dialogen ab.
Die Grenze zwischen Böse-Nacht-Geschichte-Stilisierung, staubtrockenem Humor und schlicht krampfhafter Schreibe ist bei all diesen Figuren nicht etwa fließend, sondern schlicht non-existent. Wenn die Theorien der Erwachsenen über den Strand absurder sind als alles, was Shyamalan tatsächlich ans Ende seines Films tackern könnte, kann man die schrägen Thesen sicherlich einfach wegschmunzeln – oder sich aber darüber aufregen, wie unpassend diese Teile von „Old“ gespielt und geschrieben sind. Besser weg kommen hingegen Alex Wolff („Hereditary“), Thomasin McKenzie („Jojo Rabbit“) und Eliza Scanlen („Little Women“) – von ihnen verlangt das Skript hauptsächlich, dass ihnen die Verwunderung, Neugier und Verängstigung ins Gesicht geschrieben steht, nachdem sie plötzlich in erwachsenen statt in kindlichen Köpern stecken. Das gelingt dem Trio – und die unfreiwillige Komik hölzerner Dialoge bleibt ihnen ebenfalls weitestgehend erspart.
Fazit: „Old“ vereint die Stärken und Schwächen M. Night Shyamalans zu einem interessanten, aber halbgaren Szenario: Gerade die ruhigeren Momente dieser mahnend-melancholischen Schauergeschichte sind reizvoll. Aber Nebenfiguren, die sich ständig unaufgefordert selbst vorstellen, ungelenke Tonfallwechsel sowie der verkrampfte Versuch, das Publikum derbe zu erschrecken, sorgen dafür, dass „Old“ klar hinter seinem Potential zurückbleibt.