Die Tragikomödie „Das letzte Kommando“ von 1973 mit Jack Nicholson und Randy Quaid ist trotz drei Oscarnominierungen bei weitem nicht so bekannt wie etwa der Kultfilm „Harold und Maude“, den Regisseur Hal Ashby unmittelbar davor gedreht hat. Dabei ist die Geschichte von zwei Berufssoldaten, die abkommandiert werden, um einen jungen Matrosen von Virginia in ein Marinegefängnis in Maine zu bringen, nicht nur rau (mit 65 „Fucks“ stellte der Film damals einen neuen Rekord auf) und realistisch, sondern auch gefühlvoll und sehr lustig. Der unfreiwillige Trip nach Norden liefert ein treffendes Porträt seiner Zeit, zugleich steht Nicholsons Leistung seinen direkt folgenden legendären Darbietungen in „Chinatown“ und „Einer flog über das Kuckucksnest“ in nichts nach. Dass diese Klassikerempfehlung hier steht, hat natürlich einen Grund: 2005 veröffentlichte Darryl Ponicsan, der Autor der Vorlage zu „Das letzte Kommando“, eine späte Fortsetzung, die Richard Linklater nun verfilmt hat. Das Road-Movie-Drama „Last Flag Flying“, zu dem der Filmemacher gemeinsam mit Ponicsan auch das Drehbuch verfasste, ist allerdings anders als der gleichnamige Roman kein echtes Sequel, denn die Hauptrollen wurden nicht nur neu besetzt, sondern auch umbenannt. So ist „Last Flag Flying“ letztlich eine Art Echo zum bewunderten Ashby-Film (so formuliert es Linklater selbst) und zugleich absolut eigenständig. Trotzdem ist die Vietnamveteranen-Wiedervereinigung keiner der stärksten Einträge in der Filmografie des texanischen „Boyhood“-Regisseurs.
November 2003. Der frisch verwitwete Larry Shepherd (Steve Carell) hat nun auch noch seinen Sohn im Irak-Krieg verloren. Er sucht Beistand bei zwei alten Kameraden aus dem Vietnamkrieg, die er seit 30 Jahren nicht gesehen hat: Der trinkfeste Zyniker Sal Nealon (Bryan Cranston) besitzt inzwischen eine heruntergekommene Bar in Norfolk, Virginia und der einstige Draufgänger Richard Mueller (Laurence Fishburne) hat zu Gott gefunden und predigt in einer Baptistengemeinde im Norden des Bundesstaates. Die beiden zögern, als Larry sie bittet, mit ihm zu der Militärbasis zu kommen, von der aus der Leichnam seines Sohnes zum Ehrenbegräbnis nach Arlington überführt werden soll. Er möchte, dass sie Larry Jr. zu dritt auf seiner letzten Reise begleiten. Schließlich stimmen Sal und Richard dem gemeinsamen Trip zu, bei dem alsbald alte und neue Konflikte ausgetragen werden…
„Last Flag Flying“ spiegelt die Stimmung seines Protagonisten Larry wieder, dessen Perspektive Richard Linklater in der ersten Einstellung einnimmt und der bis zum Ende das emotionale Zentrum des Films bleibt, obwohl seine beiden Reisebegleiter sich zwischendurch stark in den Vordergrund schieben. Der graue Novemberhimmel, die gedämpften Farben und die melancholische Musik: Das alles passt zur Gemütslage des vom Schicksal gebeutelten Vietnamkriegsveteranen, den Steve Carell („Battle Of The Sexes“) mit sehr betontem Understatement spielt. Nur einmal bricht es aus ihm heraus, als er erfährt, dass die Heldengeschichte, die das Pentagon ihm und der Öffentlichkeit zum Tod seines Sohnes aufgetischt hat, nicht der Wahrheit entspricht. Aber oft scheint Larry fast schon unsichtbar zu sein und steht damit in extremem Kontrast zu seinen extrovertierten und selbstbewussten Mitreisenden.
Steve Carells leise Performance wird von dem ungleich lauteren Bryan Cranston immer wieder förmlich übertönt. Der durchaus für seinen flamboyanten Stil bekannte Darsteller (darin ist er seinem inoffiziellen Rollenvorgänger Jack Nicholson nicht unähnlich) gibt dem Affen ordentlich Zucker und spielt den abgetakelten Barbesitzer Sal als Mischung aus unreifem Jungen und grantelndem Querulanten. Dabei erntet er zwar zunächst einige Lacher, aber anders als etwa in „Breaking Bad“ oder in „Trumbo“ ist kaum etwas von den Abgründen und Widerhaken unter der extrovertierten Oberfläche zu ahnen. Eine bessere Balance findet Laurence Fishburne („Matrix“), der natürliche Autorität und innere Ruhe ausstrahlt, aber zugleich spüren lässt, welche innere Anstrengung dahinter steckt. Dennoch wirken seine oft moralisierenden Dialogzeilen, ähnlich wie Cranstons komische Einlagen, etwas künstlich und gewollt.
Die Natürlichkeit der zwischenmenschlichen Kommunikation und das seismografische Gespür für Unterschwelliges sind sonst große Stärken des Filmemachers Richard Linklater, von seinem Debüt „Slacker“ über die „Before…“-Trilogie mit Ethan Hawke und Julie Delpy bis zu seinem vorigen Film „Everybody Wants Some!!“. In „Last Flag Flying“ können die Akteure jedoch nur selten das Korsett einer konstruierten und überladenen Story abwerfen. Die Figuren werden selten wirklich lebendig, sondern schleppen immer ihre Funktion mit sich herum. Ähnlich ist es mit dem Gefühl für die Handlungszeit und die vergangene Zeit, mit dem Linklater nicht nur in „Confusion - Sommer der Ausgeflippten“ und in „Boyhood“ so meisterlich umgegangen ist. Wenn hier in einer ausgewalzten Szene Bryan Cranstons Sal anno 2003 die Wunder des mobilen Telefonierens entdeckt, ist das zwar sehr amüsant, aber auch unverkennbar eine Szene von heute.
Trotz dieser grundsätzlichen Mängel ist „Last Flag Flying“ aber keineswegs misslungen. Immer wieder blitzen Linklaters Stärken dann doch auf, insbesondere in den (leider wenigen) Szenen mit Larry Jr.s jungem Kameraden Washington (J. Quinton Johnson) und mit Richards Frau Ruth (Deanna Reed-Foster), die mit ihrer Ungezwungenheit und Selbstverständlichkeit herausstechen. Und der kurze Auftritt von Cicely Tyson („The Help“) als Mutter eines verstorbenen Kameraden der drei Protagonisten ist ebenfalls sehr berührend. Hier wird das Spannungsfeld zwischen tröstenden Lügen und schonungsloser Wahrheit prägnant auf den Punkt gebracht. Linklater und Ponicsan ziehen eine Linie von Vietnam nach Irak und knüpfen daran im aktuellen US-Kino selten gestellte Fragen nach dem richtigen Patriotismus, sinnvoller Kriegspolitik und dem (männlichen) amerikanischen Selbstverständnis. Und mit dem in seiner stillen Trauer überwältigenden Finale, das in den von Bob Dylans „Not Dark Yet“ begleiteten Abspann mündet, treffen sie an der entscheidenden Stelle genau den richtigen Ton.
Fazit: Richard Linklater führt im prominent besetzten „Last Flag Flying“ drei alte Kriegskameraden zusammen, die sich seit Jahrzehnten nicht gesehen haben. Das inszeniert er gewohnt zurückhaltend, aber das deutliche Bemühen um thematische Relevanz steht der Charakterzeichnung und der eigentlichen Erzählung zuweilen spürbar im Wege.
Wir haben „Last Flag Flying“ beim 55. New York Film Festival 2017 gesehen, wo er als Eröffnungsfilm seine Weltpremiere erlebte.