Der „Tatort“ aus Hessen gehört schon seit Jahren zu den stärksten Vertretern der Krimireihe: Die Frankfurter Hauptkommissare Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf), die 2002 den eher biederen Fliegenträger Edgar Brinkmann (Karl-Heinz von Hassel) ablösten, bescherten Krimifans bis zu ihrem Abschied 2010 unter anderem die herausragenden Beiträge „Tatort: Herzversagen“ und „Tatort: Weil sie böse sind“. Auch die anschließenden Frankfurter „Tatort“-Folgen mit ihren kürzlich verabschiedeten Nachfolgern Frank Steier (Joachim Król) und Conny Mey (Nina Kunzendorf) überzeugten allesamt. Und aus der Nachbarstadt Wiesbaden, in der seit 2010 LKA-Ermittler Felix Murot (Ulrich Tukur) auf Täterfang geht, kam mit dem vielfach ausgezeichneten „Tatort: Im Schmerz geboren“ sogar eine der besten „Tatort“-Folgen aller Zeiten. Was haben „Weil sie böse sind“ und „Im Schmerz geboren“ gemeinsam? Genau: Beide Filme stammen von Regisseur Florian Schwarz und Drehbuchautor Michael Proehl, die auch beim Einstand des neuen Frankfurter Ermittlerduos wieder am Ruder sitzen. Ihr „Tatort: Kälter als der Tod“ ist ein erneut herausragend inszeniertes Krimidrama, dessen Drehbuch aber bei weitem nicht die Originalität der genannten Vorgänger besitzt.
Der Frankfurter Kommissariatsleiter Henning Riefenstahl (Roeland Wiesnekker) begrüßt zwei neue Ermittler auf seinem Präsidium: Hauptkommissar Paul Brix (Wolfram Koch) hat jahrelang für die „Sitte“ gearbeitet, seine neue Partnerin Anna Janneke (Margarita Broich) hingegen ist Quereinsteigerin und war vorher als Psychologin für die Berliner Kripo tätig. Während Brix sich als Untermieter bei seiner alten Freundin Fanny (Zazie de Paris) pudelwohl fühlt, ist Hobby-Fotografin Janneke noch gar nicht richtig in der Main-Metropole angekommen. Nun werden die beiden auf einen grausamen Dreifachmord angesetzt: Familienvater Peter Sanders (Marc Oliver Schulze), seine Frau Lydia (Olga Lisitsyna) und ihr Sohn Tobias (Valentin Wilczek) liegen erschossen in einem Einfamilienhaus. Von Tochter Jule (Charleen Deetz) und Kindermädchen Miranda Kador (Emily Cox) fehlt jede Spur. Wurden die beiden entführt? Oder haben sie womöglich selbst geschossen? Die Suche nach den vermissten Frauen führt Janneke und Brix zu Lydias Schwester Silke Kern (Carina Wiese). Deren Mann Martin (Roman Knizka) kennt Brix noch aus seiner Zeit bei der „Sitte“...
„Bevor Sie mich fragen: Ich bin nicht verwandt“, stellt der über sein neues Personal zunächst wenig erfreute Kommissariatsleiter Riefenstahl bei der ersten Begegnung im Büro fest – und spielt damit auf Leni Riefenstahl an, die in Stummfilm-Klassikern wie „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ mitspielte und Propagandafilme wie „Triumph des Willens“ für die Nationalsozialisten drehte. Es bleibt nicht der einzige Verweis dieser Art: Brix erwähnt in einem Nebensatz fast beiläufig die Gräueltaten des NS-Regimes, und der demenzkranke Vater (Wilfried Elste) von Nachbar Henrik Lasker (Tino Mewes) ist felsenfest davon überzeugt, dass Adolf Hitler mit 70 Jahren Vater wurde (und meint eigentlich Charlie Chaplin). Welchen Zweck Drehbuchautor Michael Proehl („Blindflug“) mit diesen historischen Anspielungen verfolgt, bleibt unklar: Sie sind weder besonders witzig, noch für den Handlungsverlauf relevant. Das Skandalpotenzial solcher Verweise bekam im Vorfeld der Dreharbeiten auch Hauptdarstellerin Margarita Broich („Quellen des Lebens“) zu spüren: Ursprünglich wollte sie ihre Figur nach Holocaust-Opfer Selma Jacobi benennen – doch nicht nur jüdische Organisationen fanden diese Idee unpassend, sodass die Kommissarin kurzerhand in Anna Janneke umgetauft wurde.
Für ein neues „Tatort“-Team des Hessischen Rundfunks sind Brix und Janneke – vor allem im Vergleich zum egomanischen Vorgänger Frank Steier (Joachim Król) – ein überraschend sympathisches und bodenständiges Gespann. Statt der obligatorischen Startschwierigkeiten und des für die Krimireihe typischen Aufeinandertreffens zweier grundverschiedener Naturelle (man denke an die Krimis aus Münster oder Wien) präsentieren sich Janneke und Brix auch gegenüber ihrem Vorgesetzten von Beginn an als verschworene Einheit. Diese Harmonie tut der Geschichte gut, denn zwischenmenschliche Spannungen und undurchsichtige Figuren gibt es ansonsten zuhauf: Das triste Eheleben von Martin („Ich möchte nachher mit dir schlafen.“) und Silke Kern („Ich freu mich.“) driftet ins Groteske ab, und Kindermädchen Miranda bringt die Ermittler schon bald auf die Spur eines finsteren Familiengeheimnisses. Der einsame Paketbote Achim Lechenberg (Sebastian Schwarz) hingegen dürfte beim Stammpublikum sofort Erinnerungen an den fiesen Paketzusteller Kai Korthals (Lars Eidinger) aus dem starken Kieler „Tatort: Borowski und der stille Gast“ wecken, wenngleich sein Auftritt um Längen harmloser ausfällt und eher wie ein Fremdkörper in der Handlung wirkt.
Im Mittelteil des Krimis schleichen sich zudem einige Längen ein: Die Geschichte um eine in Endlosschleife dudelnde CD wirkt konstruiert, und auch mit ihrer ziemlich offensichtlichen falschen Fährte dürften die Filmemacher krimierprobte Zuschauer kaum von der richtigen Auflösung abbringen. Statt mit cleveren Wendungen überzeugt der 947. „Tatort“ aber mit einer großartigen Inszenierung: Ähnlich wie FBI-Profiler Will Graham (Hugh Dancy) aus der US-Erfolgsserie „Hannibal“, der sich regelmäßig in die Gedankenwelt brutaler Serientäter hineinversetzt, werden auch Janneke und Brix bei gelegentlichen Imaginations-Flashs in die Vergangenheit befördert. Statt Verdächtige nur zu verhören, befinden sich die beiden plötzlich mitten im Geschehen, obwohl es zu einer anderen Zeit und an fremden Orten stattfindet. Dieser Stil ist für den „Tatort“ extrem ungewöhnlich, aber sehr reizvoll: Regisseur Florian Schwarz („Katze im Sack“) springt geschickt zwischen den Zeitebenen hin und her, ohne die Dialoge dabei zu unterbrechen. Und das großartig inszenierte Finale erinnert – wie schon die Eröffnungssequenz in seinem vorherigen „Tatort: Im Schmerz geboren“ – an Western-Klassiker wie „Spiel mir das Lied vom Tod“ oder Quentin Tarantinos „Django Unchained“, sodass der erste Fall der neuen Frankfurter Kommissare vor allem handwerklich besticht.
Fazit: Ein guter, aber (noch) nicht überragender Auftakt – der Einstand des neuen Frankfurter „Tatort“-Duos ist ein fabelhaft inszenierter Krimi, der aber unter einigen Drehbuchschwächen leidet.