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    Wara No Tate - Die Gejagten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wara No Tate - Die Gejagten
    Von Björn Becher

    Rund 90 Filme hat Takashi Miike („Ichi the Killer“, „Audition“) bis ins Jahr 2014 bereits inszeniert – wohlgemerkt in gerade mal gut 30 Karrierejahren. Der eigenwillige japanische Regisseur wechselt zwischen Videothekentrash und Kunstkino, zwischen Kinderfilmen für die Allerkleinsten und garantiert nicht jugendfreien ultrabrutalen Horror-Schockern: Miike fühlt sich in jedem Genre zu Hause, sei es nun die romantische Komödie, das Musical oder der Western. Auf allen wichtigen Festivals von Cannes bis Venedig war der Japaner schon mit seinen Filmen zu Gast, aber einen regulären Kinostart in Deutschland gab es für ihn zuletzt Ende 2005, als der bereits 2003 produzierte Horror-Thriller „The Call“ in die Lichtspielhäuser kam. Seither kamen Miike-Filme - wenn überhaupt – hier nur auf DVD und Blu-ray in den Handel. Mit „Wara No Tate – Die Gejagten“ ändert sich dies nun. Und es ist leicht zu erkennen, warum es gerade bei diesem Film mal wieder für einen Kinostart reicht: Der unter dem Dach des japanischen Arms von Studiogigant Warner entstandene Polizei-Thriller ist eine Großproduktion und die Inhaltsangabe lässt auf kurzweilig-spannendes Actionkino hoffen. Doch Miike wäre nicht Miike, wenn er solche Erwartungen nicht unterlaufen würde: Neben Action und Suspense bietet er vor allem bisweilen sehr lange Dialogszenen. Dabei wird schnell klar: Der Regisseur interessiert sich mehr für seine Figuren und ihre komplizierten moralischen Konflikte als für äußere Schauwerte.

    Nachdem seine kleine Enkeltochter vergewaltigt und ermordet wurde, stellt der mächtige und schwerkranke Medienmogul Ninagawa (Tsutomu Yamazaki) jener Person ein Kopfgeld von einer Milliarde Yen in Aussicht, die den untergetauchten vermeintlichen Täter Kiyomaru (Tatsuya Fujiwara) tötet. Der erst kurz vor dem Verbrechen aus dem Gefängnis entlassene Verdächtige ergibt  sich nach einem ersten Anschlag auf sein Leben der Polizei von Fukuoka im Süden Japans. Schon in der U-Haft wird ein weiterer Mordanschlag auf ihn verübt, im Krankenhaus folgt der nächste. Der prinzipientreue Tokioter Polizist Mekari (Takao Osawa) bekommt mit seiner Kollegin Atsuko (Nanako Matsushima) derweil den Auftrag, den Verdächtigen in die Hauptstadt zu überführen. Doch das dafür eingeplante Flugzeug wird manipuliert. Als auch ein Konvoi mit hunderten Polizisten und gepanzerten Fahrzeugen sich als nicht sicher erweist, entscheidet sich Mekari, der seine Kollegen eher als mögliche zusätzliche Bedrohung sieht, für einen unkonventionellen Weg: Nur mit Atsuko, dem Heißsporn Masaki (Kento Nagayama), dem erfahrenen Takeshi (Goro Kishitani) und deren Boss Kenji (Masato Ibu) von der lokalen Polizei will er sich Radar mit dem Gefangenen nach Tokio durchschlagen. Doch der Aufenthaltsort der kleinen Gruppe bleibt nie lange geheim…

    Die Grundsituation aus „Wara No Tate – Die Gejagten“, der 2013 auf den Filmfestspielen von Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme seine Premiere feierte, dürfte regelmäßigen Kinogängern bekannt sein: Eine kleine Gruppe muss eine Zielperson von A nach B befördern und auf dem Weg kann sich alles und jeder als Bedrohung erweisen. Darum geht es unter anderem im Actionfilm „S.W.A.T.“, in Clint Eastwoods 70-er-Jahre-Thriller „Der Mann, der niemals aufgibt“ und im Western-Klassiker „Zähl bis drei und bete“. Takashi Miike sorgt nun für eine ungewöhnliche Variante dieses Szenarios, denn bei ihm stehen die moralischen Implikationen der Situation im Vordergrund. Wichtiger als die vereinzelten Action-Szenen (Höhepunkte: die blutig-imposante Schießerei an Bord eines Zuges und ein explosiver Crash auf der Autobahn) sind entsprechend die Dialoge. Manche Gespräche der Cops untereinander mögen für sich genommen belanglos und überlang wirken - schließlich ist schnell klar, dass unter den fünf Beschützern ein Verräter sein muss, der jeweils den Aufenthaltsort der Gruppe weitergibt. Aber letztlich tragen auch diese Szenen zur zentralen Frage des Films bei, die hier in allen ihren Facetten im Mittelpunkt steht: Warum sollte die Polizei den abscheulichen Mörder, dem als Wiederholungstäter ohnehin die Todesstrafe droht, mit immensem Aufwand schützen und dabei sogar das Leben der eigenen Leute riskieren?

    Miike treibt das moralische Dilemma, das in der Frage nach der Verantwortung von Staat und Individuum angelegt ist, gezielt ins Extrem. An der Schuld des zu beschützenden Verdächtigen bestehen im Prinzip keine Zweifel, er wird zudem von Minute zu Minute unsympathischer, reizt seine Beschützer, stichelt immer wieder gegen sie und fordert sie fast schon auf, doch selbst abzudrücken – bis auch der Zuschauer sich geradezu wünscht, dass der Mörder endlich umgelegt wird. Aus dieser Zwickmühle entlässt der Regisseur sein Publikum bis zum Ende nicht: Wenn ein Amokläufer ein kleines Mädchen in seine Gewalt bringt und die Übergabe des Mörders fordert, verweigert Mekari trotzdem die Auslieferung und ist sogar bereit, den Tod des Kindes in Kauf zu nehmen. Gerade durch seine eigene tragische Hintergrundgeschichte – er hat seine schwangere Frau verloren und hegt selbst Rachegedanken – bekommt sein Beharren auf die Einhaltung der Regeln eine ganz besondere Symbolkraft und der auf sich allein gestellte, stets prinzipientreue Polizist wird fast schon zum Übermenschen hochstilisiert. Durch ihn wird klar: Wenn der (Rechts-)Staat auch nur einen Meter nachgibt, dann ist er am Ende – und das gilt selbst in einem realitätsfern übertriebenen Extremfall wie hier. Passend zu dieser Aussage wird das unausweichliche Duell zwischen dem gerechten Helden und dem amoralischen Verbrecher im finalen Drittel des Films zur grundlegenden Auseinandersetzung über die menschliche Natur und die Aufgaben der Gesellschaft.

    Fazit: Unter dem Deckmantel des Blockbuster-Action-Kinos liefert Regie-Maverick Takashi Miike mit „Wara No Tate – Die Gejagten“ einen moralisch komplexen, das Publikum konsequent herausfordernden Thriller.

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