+++ Meinung +++
Es mag zunächst wie eine freche Provokation klingen, den Videospiel-Helden Nathan Drake als wahnsinnigen Massenmörder zu bezeichnen. Doch wenn man mal kurz den Controller weglegt, um über dessen Taten in den „Uncharted“-Games nachzudenken, kann einem schon kotzübel werden. Nathan Drake hat in seinem virtuellen Leben wahrscheinlich mehr Menschen getötet als jeder Serienkiller der Filmgeschichte!
Nicht vor Ghostface oder Michael Myers sollten wir Angst haben, wenn wir nachts allein zu Hause sind, sondern vor einem Nathan Drake, der bei uns einbricht und uns über den Haufen schießt, nur weil wir womöglich im Besitz einer alten Schatulle sind, die dem Ur-Ur-Ur-Großvater vom zweiten Cousin von Christopher Columbus gehörte.
Je älter ich werde, je mehr Leid ich in der echten Welt mitbekomme und je seltener ich mich tatsächlich in virtuellen Welten aufhalte, desto schwerer fällt es mir zu akzeptieren, dass die großen „Helden“ der Videospielgeschichte fast ausschließlich skrupellose Tötungsmaschinen sind. Wenn man im comichaften Look eines „Super Mario“-Spiels Schildkröten zerstampft, dann ist die Gewalt wenigstens so entfremdet, dass ich da problemlos drüber hinwegsehen kann. Aber wenn man mit Sturmgewehren auf menschliche Figuren in realistischer Top-Grafik schießt, dann bekommen selbst Meisterwerke wie die „Uncharted“-Spiele einen faden Beigeschmack.
Tom Holland ist Nathan Drake in nett
In den Zwischensequenzen der „Uncharted“-Spiele und den Dialogen mit seinen Mitstreiter*innen wird Nathan Drake in der Regel als verschmitzter, aber stets herzensguter Sprücheklopfer gezeichnet, nur um dann im nächsten Spielabschnitt wieder reihenweise Gegnerhorden über den Haufen zu ballern, ohne mit der Wimper zu zucken. Aufgrund dieser ludonarrativen Dissonanz, also dem Widerspruch zwischen der Spielmechanik und der Geschichte, die erzählt wird, ist der Nathan Drake aus den Spielen keine Figur, mit der ich mich identifizieren kann. Den Fachbegriff habe ich übrigens von meinem Kollegen Markus in unserem „Uncharted“-Podcast gelernt – hört gerne mal rein:
Man könnte zwar argumentieren, dass sich Nate nur gegen ebenfalls gewaltbereite Halunken verteidigt, aber letzten Endes zwingt ihn ja keiner dazu, sein Leben waghalsigen Schatzsuchen zu widmen. Für mich wirkt Nate deshalb eher wie ein Adrenalinjunkie, der auf der Suche nach dem nächsten Kick sogar über Leichen geht.
Tom Hollands Nathan Drake ist im Vergleich dazu ein Vorzeige-Schwiegersohn. Ja, in seinem Leinwanddebüt sorgt er schon ab und zu dafür, dass Menschen in den sicheren Tod stürzen. Doch meist handelt es sich dabei um unglückliche Missgeschicke. Der junge Nate verteilt eben nicht reihenweise Kopfschüsse, schleicht sich nicht an seine Gegner heran, um ihnen das Genick zu brechen und packt auch nicht gleich den Raketenwerfer aus, wenn ihm danach ist.
Im „Uncharted“-Film ist Nate ein etwas tollpatschiger Waisenjunge, der sich auf die Suche nach seinem großen Bruder auf ein Abenteuer begibt, das gefährlicher ist, als er es für möglich gehalten hat.
Er landet in einem gewalttätigen Mikrokosmos von gierigen Schatzsucher*innen, wehrt sich aber so friedfertig wie nur möglich dagegen, ebenfalls zum Killer zu werden. Als Identifikationsfigur taugt der Film-Nate einfach besser.
Es war ein geschickter Schachzug, den „Uncharted“-Film als eine Art Prequel anzulegen. Nicht nur, weil so auch Nicht-Gamer*innen einen einfacheren Zugang bekommen, sondern auch, weil Nathan Drake hier noch unschuldig sein kann. Ein Mensch, der immer tiefer in Gefahr gerät, anstatt (wie Walter White aus „Breaking Bad“ so schön sagte) selbst die Gefahr zu sein. Das wild um sich ballernde Original aus den Spielen wäre auf der großen Leinwand einfach fehl am Platz.
Kein "Uncharted"-Problem, sondern ein Problem des Mediums
Versteht mich nicht falsch: Auch ich finde die „Uncharted“-Games großartig und sie stellen den Film insgesamt locker in den Schatten. Es ist schon bezeichnend, dass ich ausgerechnet den Aspekt als meinen größten Kritikpunkt bezeichne, der einen Großteil aller Mainstream-Videospiele betrifft. Von daher ist es nicht der Makel eines Nathan Drake oder eines „Uncharted“, sondern der eines ganzen Mediums, dessen erfolgreichste Vertreter fast ausschließlich Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung anbieten.
UnchartedWer damit seinen Spaß hat, dem will ich das ja nicht verbieten. Doch mir persönlich schadet es dem Spielerlebnis, der Immersion und der Beziehung zur Hauptfigur, wenn endlose Horden an Schießbudenfiguren auf mich zurennen, die ich nacheinander umbringen muss. Als Kind hatte ich das noch drauf, aber als Erwachsener muss ich mich dazu echt überwinden. Zu sehr denke ich an die Parallelen zur Realität, daran, dass wir in unseren Spielen Krieg und Totschlag simulieren, während in anderen Ländern der Welt genau das an der Tagesordnung ist.
Zumindest ist sich das Entwicklerstudio Naughty Dog dessen bewusst und hat in „Uncharted 4“ ein Achievement namens „Ludonarrative Dissonanz“ eingebaut, das man freischaltet, wenn man 1.000 Gegner tötet. Ein solch selbstironischer Umgang mit dem Thema ist zwar nett. Für die Zukunft würde ich mir dennoch wünschen, dass Videospiele öfter mal gewaltlose Alternativen bieten.
Bis es so weit ist, bleiben Filme das Medium meiner Wahl. Denn selbst wenn Tom Holland in einem möglichen „Uncharted 2“ zum Killer werden sollte, dann kann ich mich bequem davon distanzieren, weil ich es ja nicht sein werde, der den Abzug drückt...
Nächster Erfolg für Tom Holland nach "Spider-Man: No Way Home": So gut ist "Uncharted" gestartet