Während unseres Besuchs am Set von Ang Lees futuristischem Action-Thriller „Gemini Man“ in Glennville, Georgia (in der Nähe von Savannah) nimmt sich auch der Regisseur Zeit – trotz des anstrengenden Nachtdrehs. Es ist mittlerweile nach Mitternacht. Eigentlich sollte ein normaler Tag jetzt mit dem Schlafengehen enden, doch heute ist der Dreh von „Gemini Man“ noch mehrere Stunden voll im Gange. Der 64-jährige in Taiwan geborene und in den USA lebende Lee spricht über seine eigene Motivation zum Filmemachen und was sich mit „Gemini Man“ verändert hat.
In „Gemini Man“ wird das Leben des ehemaligen Regierungskillers Henry Brogan (Will Smith) auf den Kopf gestellt. Sein geklontes, jüngeres Ich Junior (ein digital am Computer generierter Will Smith) jagt Ahnungslosen. Henry weiß nicht, warum man ihn überhaupt abservieren will. Unterstützung bekommt der Gejagte von Danny (Mary Elizabeth Winstead), einer Agentin der Defense Intelligence Agency, die ihn eigentlich überwachen sollte.
FILMSTARTS: Wie geht es dir überhaupt mit diesen vielen Nachtdrehs bei „Gemini Man“?
Ang Lee: [lacht] Ach, ich werde älter. Ich sollte daran gewöhnt sein, aber ich bevorzuge Tagdrehs. Wir haben viele „Day for Night“-Szenen bei „Gemini Man“, das heißt, wir drehen Nachtszenen bei Tag. [lacht] Das ist gut für mich.
FILMSTARTS: Was hat dich am Drehbuch gereizt?
Ang Lee: Will Smith spielt einen ausrangierten Regierungskiller, dessen geklontes Ich Jagd auf ihn macht: Dieses Konzept hat mich wirklich angezogen. Da habe ich mich erstmal gar nicht um das Drehbuch gesorgt. Für mich geht es darum, wie man mit sich selbst auskommt. Würdest du dir von deinem zukünftigen Ich Ratschläge geben lassen? Kannst du ihm vertrauen? Denn Henry [der Ältere] kann niemandem vertrauen, weil er in dieser Spionagewelt lebt. Am Ende kommt es darauf an, ob du dir selbst traust und mit dir im Reinen bist. Da ist der Hintergrund, aber wir wollen natürlich auch einen Kick-Ass-Actionfilm liefern. Der innere Konflikt wird physisch dramatisiert. Da steckt viel drin.
FILMSTARTS: Wie sieht es mit der 120-Bilder-pro-Sekunden-Technik (fps) aus?
Ang Lee: Das ist für mich ein ganz neues Medium, das mich magisch anzieht – das ist das nächste große Ding in der Kinobranche. Es zieht dich als Betrachter völlig rein, als wäre man selbst dabei. Hier ist alles anders als bei „Die irre Heldentour des Billy Lynn“. Da ging es um Desillusion auf dem Schlachtfeld, hier haben wir einen Genrefilm mit all seinen Konventionen und Regeln. Da versuche ich, in 3D eine neue Ästhetik und Schönheit zu kreieren – stilisiertes Storytelling. Das ist sehr aufregend für mich. Ich habe bewusst wunderschöne Spielorte ausgewählt, alle Schauplätze sehen toll aus.
"Die Technik ist nicht voll ausgereift, aber …"
FILMSTARTS: Dieser Sprung in dieses, wie du sagst, „neue Medium“, ist aufregend, aber ängstigt er dich nicht auch, weil die Reaktionen zu „Die irre Heldentour des Billy Lynn“ nicht durchweg positiv waren?
Ang Lee: [lacht] Ja, das ist dieselbe Sache. Die Furcht ist gut, sie hält dich auf Trab, du bist ständig alarmiert, du musst dein Bestes geben. Das gilt für alle, für unsere tolle Crew und den Cast. Wir wissen noch nicht alles über diese Technik, wir machen auch noch Fehler. Aber wir wollen die Technologie vorantreiben. Wie verbinden wir sie mit der Geschichte? Das ist ein interessanter Prozess. Angst und Begeisterung sind für mich zwei Seiten einer Sache.
"Gemini Man" wird nicht weniger als eine Kino-Revolution: Am Set von Ang Lees Sci-Fi-ThrillerFILMSTARTS: Kreative in Hollywood haben seit Jahren versucht, computergenierte Menschen auf die Leinwand zu bringen. Was macht dich so sicher, dass die Technologie jetzt so weit ist?
Ang Lee: Die Technik ist nicht voll ausgereift. Doch genau das ist das Aufregende, weil es hier so viele Entdeckungen zu machen gibt. Das ist sehr befriedigend für uns Künstler. Ich hoffe, wir können die Begeisterung mit den Zuschauern rund um den Erdball teilen. Wir werden bezahlt, uns damit zu beschäftigen. Das ist toll, aber es lastet auch ein großer Druck auf uns. Das Ökosystem des Filmemachens unterstützt uns hier nicht. Wir mussten extra Kameras bauen lassen, die kleiner und handlicher sind, als zum Beispiel bei „Die irre Heldentour des Billy Lynn“, weil man Action sonst nicht filmen kann. Wir haben ein eigenes Studio am Set gebaut, um die riesigen Datenmengen zu verarbeiten, haben ein Kino errichtet, um uns das gedrehte Material in 120 fps ansehen zu können.
Ang Lees Regiekollegen interessieren sich (noch) nicht für 120 fps
FILMSTARTS: Es wurde erzählt, dass der Film im Jahr 2019 spielt. Ist „Gemini Man“ trotzdem noch Science-Fiction?
Ang Lee: Nein, ich denke, wir spielen mit menschlichen Emotionen und Geschichten. Die Wissenschaft hilft uns, Vorstellungskraft zu entwickeln. Ich habe auch keine Ahnung von Wissenschaft, ich bin einfach scharf darauf, diese Bilder zu sehen. Die Wissenschaft ist einfach da, um uns zu helfen. Es ist ein Werkzeug für uns.
FILMSTARTS: Interessieren sich eigentlich deine Filmemacher-Kumpel dafür, was du hier mit dieser neuen Technologie anstellst?
Ang Lee: Ach, nicht so sehr. [lacht] Ich fühle mich ziemlich einsam. Ich glaube, ich muss es einfach zeigen. Technologie und Finanzen hängen zusammen. Diese Technik ist sehr teuer. Bevor du den Leuten nichts gezeigt hast, kannst du auch keinen Enthusiasmus erwarten. Ich hoffe, dass ich alles gut hinbekomme und somit anderen Filmemachern den Weg ebne. Aber es geht auch darum, meine Neugier zu befriedigen. Ich will wirklich eine Geschichte in diesem Format der Bilder sehen. Es ist einfach zu aufregend, um es zu ignorieren.
120 fps: Ang Lee mussten seine Regiestil umstellen
FILMSTARTS: Wie hat die 120-Frames-Per-Second-Bildrate deinen Regiestil gegenüber den Schauspielern verändert?
Ang Lee: Oh, da hat sich viel geändert. Ich musste meinen Stil umstellen. Normalerweise gebe ich die Motivation vor und beharre darauf, nicht abzuweichen. Es gibt eine Aufgabe, und die muss präzise erfüllt werden. Aber hier bei „Gemini Man“ muss man die Figuren noch mehr zum Leben erwecken. Ich muss den Schauspielern mehr Informationen an die Hand geben. Es ist schwieriger, aber auch interessanter. Ich starte immer noch mit den Basics, der Motivation, wie wir es alle gelernt haben. Doch ich halte die Schauspieler an, sich mit dem neuen Medium auseinander zu setzen und auf den Monitor zu schauen, wie es wirkt – Take für Take.
Gemini ManMan muss härter arbeiten, die Schauspieler auch. Ich zeige den Stars die Bilder und sage: „So siehst du aus, das machst du auf der Leinwand.“ [lacht] Ich ängstige sie ein bisschen, verkleinere ihre Komfortzone. Aber wir stehen alle auf derselben Seite: „Lasst es uns ausprobieren.“ Sie sind alle sehr gut, alles Profis. Und sie wollen etwas ausprobieren, was sie noch nicht gemacht haben. Als Profi kann man immer darauf zurückfallen und vertrauen, was man gelernt hat.
FILMSTARTS: Denkst du, dass du noch einmal zum traditionellen 2D-Filmemachen zurückkehren wirst?
Ang Lee: Ich muss eine neue Religion finden. Traditionell bedeutet nicht, dass es überlegen ist. Es ist ein anderes Medium, voller Neugier.
„Gemini Man“ startet am 3. Oktober 2019 in den deutschen Kinos.