Mit Namen wie Futureland oder Magic Castle wurden die Motels unweit des Vergnügungsparks Disney World einst als Touristenattraktion gebaut. Aber inzwischen wohnen dort fast nur noch verarmte Menschen für 38 Dollar die Nacht. Seit dem Platzen der Immobilienblase 2008 und der anschließenden Rezession finden die Familien einfach kein permanentes Zuhause mehr. An diesem fast schon mythischen Ort zwischen Armut und Abenteuerspielplatz lebt auch die sechsjährige Moonee (eine Offenbarung: Brooklynn Prince) mit ihrer Mutter Halley (Bria Vinaite). Aber während sie sich am Existenzminimum irgendwie durchschlagen, ist für die schlagfertige Moonee und ihre Freunde zugleich auch jeder Tag wie ein neues großes Abenteuer…
The Florida ProjectIn satten 35-mm-Bildern erzählt „Tangerine L.A.“-Regisseur Sean Baker in „The Florida Project“ von einem Leben im sonnigen Schatten von Disney World. Wir haben den preisgekrönten Filmemacher in Berlin zum Interview getroffen, um mit ihm über die Arbeit mit Kindern, die Schauspielersuche auf Instagram und die Zukunftschancen für die realen Familien in diesen Motels zu sprechen:
FILMSTARTS: Womöglich eine etwas merkwürdige Frage, aber, Sean, wie oft warst du selbst eigentlich schon in Disney World?
Sean Baker: Nur zwei Mal, bevor ich „The Florida Project“ gefilmt habe. Mein Drehbuchautor Chris Bergoch mag Disney World aber sehr gerne, das gilt allerdings nur für ihn. (lacht) Er hat mir dieses Thema gebracht…
FILMSTARTS: Mit Kinderdarstellern zu arbeiten, kann oft knifflig sein. Wie hast du es geschafft, so natürliche Darstellungen aus deinen jungen Stars herauszukitzeln?
Sean Baker: Zunächst einmal vielen Dank. Nun, nachdem die Darsteller gefunden waren, hat Samantha Quan, mein Schauspiel-Coach, im Prinzip ein großes Ferienlager aus der gesamten Produktion gemacht. Das bedeutet vor allem, die Kinder immer bei Laune zu halten. Das ist ganz wichtig, denn in solch einem Alter dürfen sie nie anfangen sich zu langweilen. Nachdem die Dialoge im Kasten waren, haben wir dann auch mal improvisiert. Alle meine Kinderdarsteller sind auf gewisse Weise extrovertiert. Manchmal habe ich sie gebeten, einfach spontan zu sein, Spaß zu haben. Besonders Brooklynn liebt diesen Job so sehr. Ich konnte sie bitten, ganz eng am Skript zu bleiben, oder total zu improvisieren – sie hat beides drauf und das ist schon erstaunlich.
FILMSTARTS: Wie hast du denn den jungen Darstellern die Geschichte vermittelt, in der es ja auch um recht erwachsene Themen wie Prostitution geht?
Sean Baker: Nun ja, zunächst mal werden Kinderdarsteller nur an ihren Szenen beteiligt, deshalb haben sie von der Prostitutions-Thematik und anderen Erwachsenen-Themen gar nichts mitbekommen. Eigentlich haben sie von diesen Sachen nur die Schimpfwörter und Obszönitäten mitbekommen. Und gerade Brooklynn ist sehr weit für ihr Alter, fast schon ein Wunderkind. Sie hat begriffen, dass sie ein Mädchen spielt, das im Grunde in Armut lebt, und konnte sich in diese Lage hineinversetzen. Zudem habe ich den Kids gemeinsam mit Samantha Quan erklärt, dass sie diese Wörter nur benutzen dürfen, solange sie in der Rolle sind. Beim Improvisieren habe ich dann aber gemerkt, dass sie selbst auch schon weitaus schlimmere Wörter kennen. (lacht)
Wie ein Hollywoodstar und Laiendarsteller zusammenpassen
FILMSTARTS: Willem Dafoe fügt sich ausgezeichnet in den Film ein, völlig nahtlos. Warst du vorab besorgt, so einen großen Star mit hohem Wiedererkennungswert neben den übrigen unbekannten Darstellern spielen zu lassen?
Sean Baker: Selbstverständlich war ich besorgt! Aber zugleich stellen die Geldgeber einige Millionen Dollar zur Verfügung. Um da keinen Verlust zu machen, muss man ein wiedererkennbares Gesicht im Film haben. Deshalb habe ich nach Schauspielern von diesem Kaliber gesucht, die transformativ sind. Das Alter war außerdem wichtig, die realen Hotelmanager, die wir interviewt haben, waren alle so zwischen 35 und 60 Jahren alt. Ich habe dann eine Liste von möglichen Darstellern erhalten, und als ich Willems Name darauf gesehen habe, bestand für mich kein Zweifel mehr. Ich wusste, dass er aufgrund seines Könnens harmonieren würde. Ich glaube, dass er sich deshalb auch selbst Sorgen gemacht hat. Er war ja umgeben von Debütanten und Darstellern, die keine bekannten Gesichter haben. Ich selbst wusste aber ab der ersten Einstellung, dass es klappen würde, denn schon da wurde er zu Bobby.
FILMSTARTS: Du hast deinen vorherigen Film „Tangerine L.A.“ mit einem iPhone gedreht, und „The Florida Project“ nun auf 35mm-Filmmaterial. Erzähl uns doch bitte mal ein wenig über die Unterschiede und Herausforderungen?
Sean Baker: Es gibt viele Unterschiede: „Tangerine L.A.“ haben wir mit einem Micro-Budget gedreht. Im Prinzip bestand die Crew nur aus fünf Leuten. Das gab mir als Regisseur auch die Freiheit zu sagen: Die Ecke da drüben gefällt mir, wir drehen jetzt da. Dann konnten wir einfach mit dem aufhören, was wir gerade taten, und uns bewegen. Wenn du aber wie bei „The Florida Project“ mit einer Crew von 40 Leuten arbeitest, kannst du das nicht mehr machen. Je teurer und größer ein Film wird, desto schwerer wird es, diesen Level an Improvisation beizubehalten. Für mich ist das schwer, ich mag Spontanität. Mit vielen Leuten aus der Crew von „The Florida Project“ habe ich zum ersten Mal zusammengearbeitet. Sie dachten, ich bin verrückt. Andere Leute sind einfach nicht so sprunghaft. Aber am Ende hat es trotzdem gut funktioniert.
FILMSTARTS: Was hat sich in der Arbeit mit den Schauspielern verändert im Vergleich zum Vorgänger?
Sean Baker: Der „Tangerine L.A.“-Dreh war so frei, wir haben einfach angefangen zu drehen, wenn die Darsteller da waren. Wenn du aber mit Kinderdarstellern arbeitest, hast du auch Arbeitsschutzgesetze, die eingehalten werden müssen: Sie dürfen nur einige Stunden am Tag arbeiten. Vier bis sechs Stunden täglich in der Regel, abhängig vom genauen Alter. Also musste die ganze Crew extrem konzentriert sein in diesen paar Stunden, damit wir auch am Ende genug Material hatten. Bei „Tangerine L.A.” war das nie so. Manchmal waren meine Darstellerinnen Kitana Kiki Rodriguez und Mya Taylor damals drei Stunden zu spät. Aber das war im Grunde egal. Für niemanden aus der Crew gab es so etwas wie Überstunden an dem Set…
Eine Hauptdarstellerin von Instagram
FILMSTARTS: Erzähl uns doch bitte etwas über Bria Vinaite, die Moonees Mutter Halley spielt. Ich war völlig von den Socken. Mir kam sie sehr authentisch vor, gleichzeitig hätte ich nie gedacht, dass sie keine professionelle Schauspielerin ist…
Sean Baker: Ja, sie ist ziemlich schnell zum Profi geworden. Ich habe Bria ja auf Instagram entdeckt. Irgendwas hat mir gesagt, dass ich ein frisches Gesicht für die Rolle brauche. Bei der Figur von Willem Dafoe war das nicht so wichtig – Bobby erdet das Geschehen für den Zuschauer, er ist wie ein Anker. Aber bei Bria, einer jungen Mutter, die Geldprobleme hat und sogar anschaffen geht, hätte das mit einer bekannten Schauspielerin nicht so gut funktioniert. Deshalb Bria, und sie verfügt über etwas so Spezielles, da dachte ich: Warum geben wir ihr nicht eine Chance? Mein Schauspiel-Coach Samantha Quan hat dann viel mit ihr gearbeitet, sie musste ja innerhalb weniger Wochen auf einen Level kommen, um selbst neben Willem Dafoe bestehen zu können…
FILMSTARTS: Wie hast du Bria denn auf Instagram gefunden, was hat dich speziell an ihrem Profil angesprochen?
Sean Baker: Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht genau. Wahrscheinlich bin ich jemandem gefolgt, der ein Bild von ihr geteilt hat. Du kennst das doch in den sozialen Medien: Du scrollst und scrollst. Irgendwie habe ich sie gefunden, und sie hat mich zum Lachen gebracht. Gleichzeitig dachte ich durch ihr Profil: Sie hat einige körperliche Besonderheiten, die ins Auge fallen. Da war mir klar: Das ist unsere Halley. Das ist genau die Figur, die wir geschrieben haben. Als nächstes bemerkte ich dann, wie rebellisch sie ist. Sie ist ja Marihuana-Befürworterin, in jedem Instagram-Post hat sie einen Blunt im Bild. (lacht) Dadurch wusste ich, dass das nötige Selbstbewusstsein kein Problem sein würde. Als Regisseur habe ich auch eine Erfolgsbilanz, was Debütanten angeht. Einige haben sogar Preise gewonnen. So konnte ich auch die Geldgeber überzeugen. Das war schon riskant, aber am Ende hat alles geklappt.
Obdachlos neben Disney World
FILMSTARTS: Kümmert die Autoritäten und staatlichen Stellen eigentlich das Leid dieser Menschen in den Motels? Und haben die Familien dort noch Hoffnung, je wieder dort auszuziehen?
Sean Baker: Definitiv, ja. Die Menschen leben dort, weil es keine bezahlbaren Häuser für sie gibt. Wir haben da eine echte Krise in den USA. Im Prinzip kriegt die lokale Verwaltung nicht genug Geld von der US-Regierung. Und dann entstehen solche Situationen. Aber den Autoritäten ist das nicht egal. Niemand will obdachlose Familien oder Kinder, die auf der Straße leben. Viele staatliche Stellen arbeiten daran, das zu verhindern, aber die Mittel reichen einfach nicht aus. Selbst der Disney-Konzern spendete letztes Jahr 500.000 Dollar für die Obdachlosen-Hilfe. Was die Familien angeht, besteht Hoffnung, aber auch Verzweiflung. Diese Hotels können schnell zu Fallen werden. Sie sind ja nicht billig, 38 Dollar die Nacht. So viel zahle ich umgerechnet auf den Monat auch in West-Hollywood. Die Familien können kein Geld ansparen, wenn sie nur einen Mindestlohn verdienen. Und dann kommt man schwer aus diesem Kreislauf wieder raus.
FILMSTARTS: Wie habt ihr recherchiert für „The Florida Project“? Wie bist du an die Menschen vor Ort rangekommen?
Sean Baker: Im Prinzip musst du dich von einer Person zur nächsten vorarbeiten. Das ist eine sehr journalistische Vorgehensweise. Man muss freundlich und respektvoll sein, erklären, was man vorhat. Dann wird dich eine Person der nächsten vorstellen. Das dauert schon eine Weile. Was ich aber gemerkt habe: Viele Menschen in diesen Gemeinschaften, diesen Hotels, gehen sehr offen mit ihrer Situation um, weil sie das Gefühl haben, im Schatten zu leben. Man muss da aber wirklich Zeit reinstecken…
Über den Erfolg von "The Florida Project"
FILMSTARTS: Der Film kommt überall gut an, selbst eine Oscarnominierung für Willem Dafoe gab es, zudem weitere Siege und Nominierungen bei anderen Awards. Wie fühlst du dich dabei, setzt dich das auch unter Druck?
Sean Baker: Ja, doch nach einer Weile merkt man, dass Druck bedeutungslos ist. Wir haben den Film nicht wegen der Awards gemacht. Ich freue mich darüber, das „The Florida Project“ Aufmerksamkeit erhält und bin wahnsinnig stolz auf meine Darsteller, die gewürdigt werden. Für mich geht es sowieso mehr um sie. Ich hoffe, sie kriegen die Anerkennung. Für mich ist wichtig, dass ich dann die Finanzierung für meinen nächsten Film kriege. Das ist großartig. Der Rest ist für mich Bonus. Die Premiere in Cannes war ein Traum. Dann fanden wir mit A24 einen großartigen Verleih in den USA. An dem Punkt war ich schon zufrieden. (lacht)
„The Florida Project“ läuft seit dem 15. März in den deutschen Kinos!